Sozialstatus in den Blick nehmen, Angebote für Kinder und Jugendliche schaffen
Der digitale peb-Talk der Plattform Ernährung und Bewegung in Kooperation mit dem Lebensmittelverband Deutschland gestern zur Übergewichtsentwicklung und -prävention während der Coronapandemie, traf einen Nerv bei den mehr als hundert Teilnehmenden: Besonders auf die Frage, inwieweit vulnerable Kinder und Jugendliche mit Angeboten der Gesundheitsförderung besser erreicht werden können, sprachen sich Katja Urbatsch (ArbeiterKind.de), Lena Flöttmann und Stefan Ludwig (Albas tägliche Sportstunde), Georg Cremer (Publizist), Christoph Meinel (HPI Schul-Cloud) sowie Gerhard Koch (Kinderarzt) dafür aus, niedrigschwellige und partizipative Angebote für Kinder und Jugendliche zu schaffen und mit einer positiven Einstellung und Machergeist vorhandene Potenziale und Netzwerke besser zu nutzen.
Vielfältige Faktoren haben Einfluss auf die Gewichtsentwicklung
Dass COVID-19 einen großen Einschnitt für die Gesundheitsförderung bedeutet und es keine einfache Lösung gibt, betonte peb-Vorstandsvorsitzender Gerhard Koch gleich zu Beginn des Motivations-Talks. „Die Krise schlägt allumfassend zu.“ Ein Blick auf die „gesellschaftliche Resilienz“ sei wichtig um zu verstehen, welche Faktoren unsere Kinder gesund halten, so der Kinderarzt weiter. Entscheidend sei, weiterhin auf Prävention zu setzen: „Gegen Übergewicht gibt es schließlich keinen Impfstoff. Je früher Kinder positive Erfahrungen machen, umso nachhaltiger wirken sie gesundheitlich bis ins hohe Alter nach“, so Koch.
Studien zeigten für Deutschland im internationalen Vergleich zwar einen stagnierenden Trend bei der Übergewichtsentwicklung, jedoch sei zu erwarten, dass sich Homeschooling und geringere Bewegungsmöglichkeiten aufgrund der Corona-Pandemie negativ auf die Gewichtsentwicklung niederschlagen werden. Koch: „Eine Gemengelage aus vielen Gründen führt zu Übergewicht. Wir sollten die natürlichen Ressourcen stärken, Bildung, gesunde Schwangerschaft, Stillen und in der Schule Kinder nicht ‚einstuhlen‘, sondern für regelmäßige Bewegung sorgen.“
Bewegungsangebote auch digital
Wie trotz pandemiebedingter Einschränkungen dennoch durch eine digitale Sportidee Bewegung in den Alltag von Kindern und Jugendlichen kommt, machten Lena Flöttmann und Stefan Ludwig vom Erfolgsprogramm Albas tägliche Sportstunde eindrucksvoll deutlich. „Wir wollen das einfach halten. Die Kinder sollen ohne sich groß anmelden zu müssen, Angebote finden, damit sie schnell in Bewegung kommen.“ Flöttman und Ludwig plädierten weiter dafür, viel mehr mit den Betroffenen zusammen zu arbeiten.
Positive Grundhaltung statt Bevormundung
„Stärker die Perspektive der Familien einnehmen, die man erreichen will“, dafür sprach sich auch Katja Urbatsch als bekennender Alba-Berlin Fan aus. Die Gründerin und Geschäftsführerin von ArbeiterKind.de erklärt: „Für sozial schwache Familien ist gesunde Ernährung ein Luxusthema“. Viele dächten: „Ich verzichte schon auf so Vieles, jetzt muss ich mich auch noch beim Essen einschränken.“ Um gerade Kinder und Jugendliche zu erreichen, die Angebote der Prävention dringlich bräuchten, solle man nicht nur akademisch denken, sondern versuchen, einen nicht bevormundenden Zugang zur Zielgruppe zu finden. „Entscheidend ist eine positive Grundhaltung, die den jungen Menschen etwas zutraut und sie ermutigt“, so Urbatsch weiter, die mit ihrem gemeinnützigen Verein und 6.000 Ehrenamtlichen Jugendlichen dabei unterstützt, sich als erster in ihrer Familie für ein Studium zu entscheiden. „Dazu brauchen sie Vorbilder und Unterstützer in ihrem Umfeld, die Potenzial erkennen und bei den notwendigen Weichenstellungen auf ihrem Bildungsweg helfen.“
Corona: Häusliche Umgebung relevanter geworden
Dem stimmte Georg Cremer, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Freiburg zu. „Die Corona-Pandemie hat wie unter einem Brennglas gezeigt, wie wichtig die häusliche Umgebung ist. Die Verwundbarkeit bei sozial Schwachen ist deutlich größer, bedingt zum Beispiel durch die Wohnverhältnisse, wegfallendes Schulessen oder die geringere Chance, um Homeoffice zu arbeiten. Welche Bedeutung und Belastung hatte das für Kinder und Jugendliche?“ Der Caritas-Generalsekretär a. D. ist der Meinung, dass sich das Präventionsdilemma nicht unter den Bedingungen einer Pandemie lösen lässt. Der Sozialstaat habe zu hohe Hürden. „In der nächsten Krisensituation müssen Sicherheit und soziale Verantwortung besser abgewogen werden.“ Und spricht sich dafür aus, Kitas und Schulen in sozialen Problemlagen finanziell und sozialpädagogisch stärker auszustatten.
Digitale Infrastruktur für den Bildungsbereich verbessern
An einer flächendeckenden digitalen Infrastruktur im Bildungsbereich arbeitet Christoph Meinel mit der HPI-Schul-Cloud. Der Professor für Informatik und Geschäftsführer des Hasso-Plattner-Instituts Potsdam sagt: „Wir brauchen an Schulen einfache digitale Kanäle. Schule braucht keine alten Computer, sondern Infrastruktur über Smartphones und Tablets – diese kennen Kinder aus ihrem Alltag und bedienen sie intuitiv.“ Der Lockdown habe sozial Schwache besonders schwer getroffen. Nur 24 Prozent der Kinder mit niedrigem sozioökonomischen Status haben digitalen Zugang. Die aktuelle Bitkom-Studie zeige zudem, dass fast neun von zehn Bürgerinnen und Bürgern fordern, alle Schulen in die Lage zu versetzen, noch in diesem Schuljahr per Homeschooling unterrichten zu können. Meinel dazu: Die Digitalisierung der Schulen sei „kein Zauberwerk, aber die Infrastruktur wurde bislang in Deutschland nicht auf die Straße gebracht."
Blick auf soziokulturelles Umfeld wichtig
„Ich freue mich über den großen Zuspruch für den peb-Talk aus ganz Deutschland. Der Lebensmittelverband unterstützt peb bei der wichtigen Aufgabe, über den engen Zusammenhang von Ernährung und Bewegung zu informieren“, sagt Angelika Mrohs, Geschäftsführerin des Lebensmittelverbands Deutschland. „Der peb-Talk hat gezeigt, wie wichtig das soziokulturelle Umfeld bei der Übergewichtsprävention ist, und zugleich einige gute Ansätze und motivierende Best Practise-Beispiele gegeben, um Fehlernährung und Bewegungsmangel zu begegnen. Wir werden diesen Ansatz, Ernährung und Bewegung im Zusammenhang zu verstehen, auch weiterhin verfolgen.“