Interview mit Dr. Stephan Barth zum Weltgesundheitstag

Eine ausreichende Nährstoffversorgung scheitert oft an Alltagshürden

- Anlässlich des Weltgesundheitstag haben wir mit Mediziner und Lebenswissenschaftler Dr. Stephan Barth über die Bedeutung einer ausreichenden Zufuhr von Mikronährstoffen wie Vitaminen und Mineralstoffen für die Gesundheit gesprochen.
Sortiment von verschiedene Lebensmittel für eine ausgewogenen flexitarische Ernährungsweise mit Obst, Gemüse, Fleisch, FIsch und Milchprodukten.
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Warum sind Mikronährstoffe für unsere Gesundheit so wichtig?

Im Allgemeinen werden Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente als sogenannte Mikronährstoffe bezeichnet. Und die sind essenziell für nahezu alle biologischen Prozesse im menschlichen Körper. So unterstützen sie unter anderem das Immunsystem, den Energiestoffwechsel, die Zellregeneration, die kognitiven Funktionen und die Knochengesundheit. Sie sind daher lebenswichtig für uns und sollten deshalb auch bedarfsdeckend über unsere Nahrung zugeführt werden. An dieser Stelle möchte ich mit einem Mythos aufräumen, der auch durch wenig differenzierte Aussagen in Social Media befeuert wird: Eine fehlende Bedarfsdeckung mit Mikronährstoffen äußert sich bei uns nur sehr selten in klinisch messbaren Symptomen. Jedoch kann nur im Verbund mit spezifischen, klinischen Symptomen von einem Mangel gesprochen werden, was in Deutschland eher selten auftritt. Viel häufiger als ein Mangel ist hingegen eine Unterversorgung. Sie tritt unerkannt und ganz ohne klinisch spezifische Symptome auf, kann sich aber dann besonders in sensiblen Lebensphasen oder Risikogruppen zu einem stillen Risikofaktor entwickeln. Nicht selten werden die bei Unterversorgung eher unspezifischen Beschwerden, wie z. B. Erschöpfung, Infektanfälligkeit, Verdauungsprobleme, auffällige Änderungen im Körpergewicht, Stimmungsschwankungen oder Konzentrationsdefizite als „normal“ abgetan und es wird eben nicht dem Verdacht auf eine Mikronährstoffunterversorgung nachgegangen.

Gibt es in der deutschen Bevölkerung Mikronährstoffe, bei denen viele Menschen die Zufuhrempfehlungen nicht erreichen? Wenn ja, welche?

Ja, und das ist sogar vom Max Rubner-Institut in einer bundesweiten Erhebung der Ernährungssituation mit ca. 20.000 Teilnehmenden gut dokumentiert, die allerdings bereits vor über 18 Jahren durchgeführt wurde: Die sog. Nationale Verzehrsstudie II (NVS II) zeigte, dass definierte Bevölkerungsgruppen die Zufuhrempfehlungen für bestimmte Mikronährstoffe nicht erreichen. Besonders kritisch war die Versorgungslage bei Vitamin D, Folsäure und Eisen, insbesondere bei Frauen im gebärfähigen Alter. Calcium war vor allem bei Jugendlichen und älteren Menschen defizitär und eine Unterversorgung mit Jod trat in allen Bevölkerungsgruppen auf, sofern in der üblichen Ernährung kein Jodsalz verwendet wurde. Diese Defizite betrafen teils über 70 Prozent der jeweils genannten Bevölkerungsgruppen. Auch Magnesium und Selen waren in bestimmten Subgruppen laut NVS II zu niedrig. Ich gehe davon aus, dass sich diese Versorgungssituation seither in Deutschland nicht wesentlich verbessert hat.

Woran liegt es, dass es schwerfällt, diese Mikronährstoffe in ausreichender Menge aufzunehmen?

Dafür gibt es verschiedene Gründe. Zum einen hat sich unser Ernährungsverhalten stark verändert, was sicherlich auch mit dem deutlich veränderten Lebensmittelangebot verbunden ist. Wir essen oft zu energiereiche und gleichzeitig (mikro)nährstoffarme Lebensmittel. Für diese Situation ist „Overfed & undernourished – Überfüttert und unterernährt“ sehr bezeichnend. Gleichzeitig liegt der Verzehr von frischem Gemüse und Obst, Vollkornprodukten und unverarbeiteten Lebensmitteln viel zu niedrig. In aller Regel sind es aber genau diese traditionellen Lebensmittel, die wichtige Mikronährstofflieferanten für uns sind. Hinzu kommt unser moderner Lebensstil mit chronischem Stress, wenig Zeit in der Natur und im Sonnenschein und die zahllosen Diäten oder Ernährungstrends, die bestimmte Lebensmittelgruppen ausklammern oder als vermeintlich gesunden Schwerpunkt anpreisen. In der Summe dieser „modernen“ Lebensstilfaktoren, kann in einzelnen Gruppen oder Lebensphasen die Zufuhr unter dem Bedarf liegen, und es entsteht für sie eine entsprechende Versorgungslücke.

Gibt es bestimmte Gruppen, die besonders gefährdet sind, unterversorgt zu sein?

Für eine Versorgungslücke sensible Lebensphasen betreffen sicherlich Schwangere und Stillende, Kinder und Jugendliche, sowie Senioren. Diese Gruppen haben entweder einen erhöhten Bedarf an einzelnen Mikronährstoffen oder der veränderte Stoffwechsel führt dazu, dass die Aufnahme von Mikronährstoffen abnehmen kann. Ich zähle zu den vulnerablen Gruppen aber auch Menschen mit chronischen Erkrankungen und/oder regelmäßiger Medikation, sowie Personen mit sehr eng fokussierten Ernährungsformen. Auch bei ihnen ist der Bedarf entweder erhöht oder die Zufuhr eingeschränkt, weil das Lebensmittelspektrum begrenzt ist oder weil eben wegen Erkrankung oder Arzneimittelnebenwirkung die Resorption von Mikronährstoffen gestört ist. Und im Übrigen können auch Sportlerinnen und Sportler oder Menschen mit hohem Stresslevel zu Bevölkerungsgruppen mit einem erhöhten Bedarf für bestimmte Mikronährstoffe gehören.

© Dr. Stephan Barth

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Wie realistisch ist es, allein über die Ernährung eine optimale Versorgung zu erreichen? Gibt es typische Hürden im Alltag?

In der Theorie ist es für gesunde Menschen in den meisten Lebensphasen durchaus möglich, den Bedarf an Mikronährstoffen über eine vielseitige und vollwertige Ernährung zu decken. Und das ist auch meine klare Empfehlung, dies so anzustreben. Im Alltag ist es aber oftmals schwer, dies immer so umzusetzen. Schuld daran sind die bekannten Alltagshürden wie Zeitmangel, unregelmäßige Mahlzeiten, ungenügende Qualität der Gemeinschaftsverpflegung, hohe Verarbeitungsgrade von Lebensmitteln geringer Mikronährstoffdichte oder einfach das persönliche Unwissen über geeignete Nährstoffquellen, um nur einige zu nennen Ich sehe oft, dass selbst gesundheitsbewusste Menschen mit gutem Willen an der Umsetzung scheitern, weil die Rahmenbedingungen dies eben kaum ermöglichen und/oder die adäquate Gesundheitskompetenz fehlt. Daher reichen dann gerade in belastenden Lebensphasen die üblichen Ernährungsempfehlungen allein oft nicht aus, wenn ein gesunder Lebensstil in den Lebenswelten so schwer umsetzbar ist.

Können Nahrungsergänzungsmittel helfen, Versorgungslücken zu schließen?

Zuerst einmal ist mir wichtig festzuhalten, dass Nahrungsergänzungsmittel kein Ersatz für eine ausgewogene Ernährung sind. Ein schlechter Lebensstil kann durch sie nicht kompensiert werden. Sie können aber je nach Bedarf und Lebensumstände eine sinnvolle Ergänzung sein, um Versorgungslücken nicht entstehen zu lassen, Sicherlich können sie Menschen auch dabei helfen, identifizierte Mikronährstofflücken gezielt auszugleichen. Und auch für Ältere oder Menschen mit erhöhtem Bedarf oder eingeschränkter Resorption sind gezielt eingesetzte Supplemente unterstützend zur adäquaten Ernährung hilfreich. 

Worauf sollte man bei der Auswahl von Nahrungsergänzungsmitteln achten?

Hier gelten die gleichen Maßstäbe wie bei der Auswahl von Lebensmitteln. Wichtig ist, auf Transparenz und Qualität zu achten: Die Produkte sollten von seriösen Anbietern stammen und klar deklarierte Dosierungen aufweisen, die sich an den empfohlenen Tagesmengen orientieren. Ich rate dringend davon ab, wahllos hochdosierte Präparate aus dem Internet und aus nicht EU-regulierten Märkten zu bestellen. Auch ist bei täglich gleichzeitiger Einnahme verschiedener Präparate darauf zu achten, dass für einzelne Mikronährstoffe keine gesundheitlich kritische Dosierung erreicht werden. Und gerade Menschen mit Grunderkrankungen und/oder regelmäßiger Medikamenteneinnahme sollten die Einnahme von Supplementen auf jeden Fall mit der behandelnden Ärztin oder dem behandelnden Arzt abklären, um Wechselwirkungen auszuschließen.

Welche Rolle spielt die individuelle Lebensweise (z. B. Stress) für den Mikronährstoffbedarf?

Wie ich bereits andeutete, beeinflussen chronischer Stress, verbunden mit Schlafmangel oder hohem Leistungsdruck, den Stoffwechsel ganz massiv, was den Bedarf an bestimmten Mikronährstoffen wie Magnesium, Selen, B-Vitamine oder Vitamin C und E deutlich erhöhen kann. Auch bestimmte Medikamente können den Mikronährstoffhaushalt aus dem Gleichgewicht bringen. Um die Versorgungslücke zu schließen, ist es daher ganz entscheidend, den Bedarf abgestimmt auf die individuellen Lebensumstände abzuschätzen und dann neben einer bedarfsgerechten Versorgung auch die Lebensweise anzupassen.  Denn Supplemente können nur den stressbedingten Mehrbedarf an Mikronährstoffen ausgleichen, aber den Stress selbst nicht abstellen!

Haben Sie eine zentrale Botschaft, die Sie den Menschen zum Weltgesundheitstag mitgeben möchten?

Meine zentrale Botschaft lautet: Gesundheit beginnt auf dem Teller, aber sie endet dort definitiv nicht. Denn eine ausgewogene Ernährung bildet nur einen Teil des Fundamentes, das wir durch weitere lebensstilbasierte Anteile wie Bewegung, Stressmanagement/Schlaf oder soziale Gesundheit ergänzen sollten. Und nur auf diesem gesunden Fundament aufbauend, kann dann auch der gezielte Einsatz von Nahrungsergänzungsmittel in sensiblen Lebensphasen helfen, ein gesundes, leistungsfähiges und zufriedenes Leben zu genießen. Es geht daher für mich eindeutig nicht um „entweder Lebensstil oder Supplemente", sondern um ein bewusstes und gezieltes „sowohl als auch“. Genau SO verstehe ich systemische Gesundheitsförderung und moderne Prävention.

Weitere Informationen zu Dr. Stephan Barth finden sich unter: https://www.drstephanbarth.com/.

Ausführliche Informationen zum Thema Mikronährstoffe und Nahrungsergänzungsmittel finden sich unter: https://www.nahrungsergaenzungsmittel.org/.