„Nicht die Existenz eines Stoffes ist gefährlich, sondern die Dosis“

Herr Professor Hensel, was sind die Hauptaufgaben des Bundesinstituts für Risikobewertung?
Das BfR schützt die Gesundheit der Menschen – das ist unser zentrales Ziel. Wir bewerten Risiken im Zusammenhang mit Lebensmitteln, Bedarfsgegenständen, Chemikalien und Futtermitteln. Dabei geht es nicht nur um bekannte Risiken, sondern auch um solche, die erst neu entdeckt oder bisher unterschätzt wurden. Unsere Arbeit endet oft in politischen Empfehlungen. Um es greifbarer zu machen: Wir untersuchen z. B. Substanzen wie Bisphenol A oder Aromen und Rückstände in Lebensmitteln. All das mit dem Ziel, Produkte sicherer zu machen – wissenschaftlich fundiert und unabhängig.
Wie entscheiden Sie, welche Stoffe Sie bewerten?
Wir bewerten rund 4.000 Stoffe pro Jahr – das meiste davon auf Anfrage von Ministerien und Behörden. Viele Bewertungen erfolgen im gesetzlichen Rahmen, etwa bei der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln oder neuen Lebensmitteln. Aber auch unerwartete Themen kommen auf – beispielsweise, wenn plötzlich Fragen zu einem neuen Inhaltsstoff viral gehen. Ein aktuelles Beispiel: Die Diskussion um Maul- und Klauenseuche – da wollten viele wissen, ob das Fleisch betroffener Tiere überhaupt noch verzehrbar ist. Unsere Antwort lautete: Ja, das ist unbedenklich. Solche Einschätzungen müssen dann schnell und fundiert erfolgen.
In den Medien wird häufig vor Stoffen wie Glyphosat oder Mikroplastik gewarnt. Wie gefährlich ist unser Essen tatsächlich?
Wissenschaftlich betrachtet ist unser Essen in Deutschland extrem sicher. Aber das mediale Dauerfeuer erzeugt das Gefühl, wir würden schleichend vergiftet. Da heißt es dann: „Krebs durch Frühstücksmüsli“ oder „Kaffee enthält gefährliche Stoffe“. Ja – das stimmt sogar, wenn man ganz genau misst. Aber die Konzentrationen sind extrem gering, teils im Pikogrammbereich – das ist eine eins mit 15 Nullen hinterm Komma. Da entsteht schnell ein falscher Eindruck. Viel gefährlicher sind hingegen mikrobiologische Risiken, z. B. durch Listerien oder Salmonellen – besonders bei unsachgemäßer Lagerung oder Verarbeitung. Aber das wird medial kaum thematisiert.
Welche Risiken werden überschätzt – und welche unterschätzt?
In Deutschland herrscht eine tiefe Skepsis gegenüber „Chemie“. Rund 40 Prozent der Menschen wollen in einer Welt ohne Chemikalien leben – was wissenschaftlich gesehen natürlich unmöglich ist. Gleichzeitig wird unterschätzt, was tatsächlich krank macht: Bakterien wie Campylobacter, die bei unzureichender Küchenhygiene leicht übertragen werden. Viele wissen nicht, dass Millionen Deutsche jährlich durch solche Erreger krank werden – und nicht durch angeblich gefährliche Rückstände. Ein gutes Beispiel: Rohmilch. Die wird gerade gehypt, vor allem im Netz. Aber für Kinder ist sie potenziell lebensgefährlich – wegen E. coli-Bakterien, die schwere Durchfälle und sogar Todesfälle verursachen können. Trotzdem halten sich solche Mythen hartnäckig.
Warum ist es so schwierig, wissenschaftliche Risiken verständlich zu kommunizieren?
Weil Menschen dazu neigen, Bedrohungen emotional und subjektiv zu bewerten. Wenn ich selbst entscheide, ein Risiko einzugehen – wie beim Fallschirmspringen oder beim Mopedfahren im Thailand-Urlaub – empfinde ich es als weniger gefährlich. Wenn aber jemand anders entscheidet, was in meinem Essen ist, ohne dass ich es kontrollieren kann, wächst das Misstrauen. Hinzu kommt: Wissenschaft liefert keine absoluten Wahrheiten. Neue Daten können alte Erkenntnisse überholen. Diese Unsicherheit zu kommunizieren ist anspruchsvoll – viele greifen dann lieber auf das zurück, was sie „irgendwo gehört“ haben.
Welche Kommunikationsstrategien verfolgt das BfR?
Wir setzen auf einen breiten Mix – von klassischen Pressemitteilungen über Podcasts und Video-Statements bis hin zu einem Kinderbuch oder Comics. Ein erfolgreiches Beispiel ist unsere Vergiftungs-App für Eltern und Großeltern. Sie hilft bei Ersteinschätzungen im Alltag – schnell und einfach. Auch unsere FAQs zu aktuellen Themen sind sehr gefragt. Ziel ist es immer, die Menschen dort abzuholen, wo sie stehen – fachlich, sprachlich und emotional.
Welche Verantwortung tragen Medien und soziale Netzwerke in der Risikokommunikation?
Eine sehr große. Leider werden dort oft relative Zahlen dramatisiert – etwa: „100 Prozent mehr krebserregender Stoff gefunden!“ Dabei handelt es sich vielleicht um eine Steigerung von ein auf zwei Pikogramm – also faktisch irrelevant. Social Media lebt von Klicks, nicht von Information. Diese Mechanismen nutzen auch Akteure, die gezielt Angst erzeugen wollen – NGOs, politische Gruppen oder Influencerinnen und Influencer. Für uns ist das schwierig, denn unsere nüchterne Analyse „Kein Grund zur Panik“ erzeugt wenig Aufmerksamkeit, obwohl sie korrekt ist.
Gab es Fälle, in denen Ihre Kommunikation gescheitert ist – weil Mythen dominieren?
Scheitern würde ich nicht sagen, aber es gibt Themen, bei denen die sachliche Bewertung kaum durchdringt. Mikroplastik ist so ein Beispiel: Es ist zwar allgegenwärtig, aber derzeit gibt es keine Hinweise auf eine gesundheitliche Gefährdung für den Menschen. Trotzdem bleibt das Gefühl der Verunsicherung. Oder Glyphosat: Trotz eindeutiger Bewertung als nicht krebserregend – sowohl durch das BfR als auch durch internationale Gremien – halten sich Zweifel. Besonders schwierig wird es, wenn einem dann noch Korruption unterstellt wird. Aber wir vertrauen auf unsere wissenschaftliche Qualität – die wurde uns zuletzt auch vom Wissenschaftsrat als „sehr gut bis exzellent“ bestätigt.
Welche Rolle spielt Künstliche Intelligenz in Ihrer Arbeit – und bei der Risikowahrnehmung der Bürger?
KI ist ein spannendes Thema. Wir haben unsere eigene Anwendungen, etwa zur Datenanalyse in der Toxikologie. Sprachmodelle wie ChatGPT können Orientierung geben – aber sie sind kein Ersatz für fundierte Bewertung. Sie generieren Texte auf Basis vorhandener Informationen, aber überprüfen keine Fakten. Wer also liest, dass ein Stoff ungefährlich sei, weil die KI das sagt, sollte skeptisch sein – es sei denn, die Quelle ist vertrauenswürdig. Viel wichtiger als KI ist momentan der systematische Umgang mit guten Daten – dafür arbeiten wir an der digitalen Infrastruktur.
Zum Abschluss: Haben Sie einen alltagstauglichen Hygienetipp?
Händewaschen! Und zwar lange genug. Unsere Regel: zweimal „Alle meine Entchen“ singen. Wer das beherzigt, schützt sich und andere effektiv – oft besser als durch alle Vermeidung von vermeintlich „gefährlichen“ Stoffen.
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