65 Jahre Spitzenverband der Lebensmittelwirtschaft
Heute vor 65 Jahren gründeten Persönlichkeiten aus Lebensmittelindustrie, -handwerk und -handel einen Verband für die gemeinsamen Interessen der Branche. Er heißt heute Lebensmittelverband Deutschland.
Es war Februar 1955, als ein Einladungsschreiben zahlreiche Vertreter der deutschen Lebensmittelbranche erreichte – gezeichnet von 64 bedeutenden Persönlichkeiten aus Industrie, Handwerk und Handel. Werner Bahlsen, Otto Henkell, Dr. Herbert Kühne, Dr. Richard Hengstenberg, Hermann Asbach – viele der Familiennamen klingen auch heute noch bekannt, stehen sie doch für traditionsreiche Konsummarken. Es war die Einladung zur Neugründung eines, wie es dort steht, „Bundes für Lebensmittelkunde und Lebensmittelrecht“. Zitat aus dem Einladungstext: „Mit Kriegsende kamen die Arbeiten des 1901 gegründeten Bundes Deutscher Lebensmittel-Fabrikanten und -Händler für Lebensmittelkunde und Lebensmittelrecht e. V. (genannt Nürnberger Bund) zum Erliegen. Seither ist aus der an der Gestaltung des deutschen Lebensmittelrechts beteiligten Wirtschaft der Wunsch laut geworden, diesen früher so verdienstvollen und schöpferischen Zusammenschluss wieder ins Leben zu rufen.“ Die Unterzeichner hätten „in enger Fühlungnahme mit Organisationen und Persönlichkeiten der Ernährungswirtschaft die organisatorischen Vorbereitungen zur Neugründung übernommen“.
Nürnberger Lebensmittelbund
Wer aber war dieser Nürnberger Bund, zu dessen Wiedergründung hier eingeladen wurde? Prägend für den Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert war die Industrialisierung, die auch starke technische und wirtschaftliche Veränderungen für den deutschen Lebensmittelmarkt mit sich brachte. Die daraus resultierenden Konflikte und eine zunehmende Rechtsunsicherheit führten 1901, auf der Schwelle zum neuen Jahrhundert, zur Gründung des Verbands Bund Deutscher Nahrungsmittel-Fabrikanten und -Händler e. V. Der später kurz „Nürnberger Bund“ genannte Zusammenschluss hatte die Aufgabe, die Interessen der zu dieser Zeit stark zersplitterten Lebensmittelindustrie und des Lebensmittelhandels zu wahren und stärken. Auch dieser Verband arbeitete damit bereits stufenübergreifend und war kein reiner Industrie- oder Handelsverband. Im Jahr 1905 gehörten dem Nürnberger Bund bereits 432 Unternehmen und Einzelmitglieder sowie 30 Verbände an. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gestaltete der Verband die Bereiche Lebensmittelwirtschaft, -wissenschaft und -recht entscheidend mit. So brachte er beispielsweise mit dem Deutschen Nahrungsmittelbuch (1905) eine erste Sammlung von Begriffsbestimmungen und Handelsgebräuchen für Lebensmittel heraus, die gleichzeitig auch die aktuell gültigen, die Lebensmittelwirtschaft betreffenden Gesetze und Verordnungen enthielt. Neben der Mitarbeit an der Ausgestaltung des Lebensmittelrechts beteiligte sich der Nürnberger Bund an der Diskussion um die Gestaltung der amtlichen Lebensmittelkontrolle.
Kunde und Recht
In der Nazizeit war der Verband von der Neuorganisation der Wirtschaft betroffen. Der Reichswirtschaftsminister richtete eine Reichsgruppe Industrie ein und darin eine Wirtschaftsgruppe Lebensmittelindustrie. Diese galt ab 1934 als alleinige Vertretung des Wirtschaftszweigs. Ihre Fachgruppen und Fachuntergruppen traten anstelle der freien Verbände. Der Nürnberger Bund wurde als neutraler „Zweckverband“ für rechtliche und wissenschaftliche Fragen angesehen und durfte weiterbestehen, verlor aber seine wirtschaftspolitische Funktion. Mit Fokus auf sein Aufgabengebiet wurde der Verband mit einer am 2. Dezember 1936 beschlossenen Satzungsänderung in Bund Deutscher Lebensmittel-Fabrikanten und -Händler für Lebensmittelkunde und Lebensmittelrecht e. V. umbenannt. Im Jahr 1945 erfolgte die Auflösung des Verbandes. Zuletzt gehörten dem Nürnberger Bund 275 Unternehmen und Personen der Lebensmittelindustrie und des Lebensmittelhandels – darunter 38 Brauereien –, sechs Handelskammern, neun Wirtschaftsfachgruppen und Reichsinnungsverbände sowie zehn Chemielabore und Chemiker an.
Wiedergründung 1955
10 Jahre später folgten dann zahlreiche Wirtschaftspersönlichkeiten der Einladung für die Neugründung und kamen am 10. März 1955 zur Gründungsversammlung im Grand-Hotel und Fürstenhof Nürnberg zusammen. Der Verband erhielt in Anknüpfung an seine letzte Bezeichnung den Namen Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde e.V., in der ersten Version der Satzung noch mit der Abkürzung „Nürnberger Bund“. Diese beanspruchte jedoch eine andere Organisation für sich, weshalb dies später geändert wurde. Stattdessen bürgerte sich die Abkürzung BLL ein. Unter diesem Namen arbeitete der Verband knapp 60 Jahre lang.
Verband der Kette „von Acker bis Teller“
Als stufenübergreifender Repräsentant der gesamten Lebensmittelwirtschaft wurde er für seine Mitglieder – die sich nach Industrie, Handwerk und Handel um alle weiteren Bereiche der Lebensmittelkette erweiterte – unverzichtbar und erarbeitete sich in Politik, Verwaltung und Wissenschaft hohe Anerkennung. In den sechs Jahrzehnten kamen umfassende Dienstleistungen für seine Mitglieder hinzu. Er unterstützte insbesondere die Entwicklung des Kennzeichnungsrechts, des Zusatzstoffrechts sowie die Harmonisierung des Lebensmittelrechts in Europa und wirkte an der Leitsatzarbeit mit. Gleichzeitig stieg seine Relevanz auch in der öffentlichen Diskussion um Lebensmittel und Ernährung. Um all diesen Entwicklungen Rechnung zu tragen und die Dimension seiner Mitglieder, Themenfelder und Tätigkeiten abzubilden, nannte sich der Verband – als Ergebnis eines 2015 gestarteten internen Prozesses – im Jahr 2019 um in Lebensmittelverband Deutschland. Sein heutiger Präsident ist Philipp Hengstenberg. Der Name seines Großvaters findet sich unter der Gründungseinladung.