Werbung für vegetarische Würstchen in der Prime-Time macht Kinder dick - oder etwa nicht?
Im Koalitionsvertrag hat sich die Ampel-Regierung auf einen Kompromiss geeinigt: „An Kinder gerichtete Werbung für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- oder Salzgehalt darf es in Zukunft bei Sendungen und Formaten für unter 14-Jährige nicht mehr geben.“ Ein fast klarer Arbeitsauftrag. Dennoch gibt es mittlerweile mehrere Entwürfe des sogenannten Kinder-Lebensmittel-Werbegesetzes (KLWG) und eine Einigung konnte immer noch nicht erzielt werden, da auch der vierte Referentenentwurf (KLWG 4) inhaltlich nicht mit dem Wortlaut des Koalitionsvertrags übereinstimmt. Es beruht nach wie vor auf den Narrativen, die u. a. die Deutsche Allianz Nichtübertragbarer Krankheiten (DANK) nicht müde wird immer wieder medial neu zu inszenieren. Das macht die Behauptungen aber nicht wahrer.
Fußballspiele und Castingshows sind Familienformate, keine Kindersendungen
Kindersendungen sind medienrechtlich definiert als Sendungen, die sich inhaltlich an unter 14-Jährige richten. Ginge es nach dem Koalitionsvertrag, dürfte dann beispielsweise vor oder nach diesen Formaten (dazwischen läuft schon jetzt keine Werbung) nicht mehr geworben werden. Geht es nach dem KLWG 4, richtet sich die Werbebeschränkung an einer Uhrzeit aus (u. a. montags bis samstags zwischen 17 und 22 Uhr), statt sich auf die Zielgruppe zu fokussieren. Casting- und Musikshows, Spiel- und Quizformate oder auch das sportliche Großereignis schauen Kinder, wenn überhaupt, aber nicht alleine, sondern mit der Familie, sprich mit ihren Erziehungsberechtigten. Laut Daten der Arbeitsgemeinschaft Videoforschung ist der Markanteil der 3- bis 13-jährigen Kinder montags bis freitags zwischen 17 und 22 Uhr bei zwei Prozent, samstags bei drei Prozent und sonntags zwischen 8 und 22 Uhr bei zwei Prozent.
Auch Käse, Wurst und ihre veganen Alternativen wären vom Werbeverbot betroffen
Die Definition, was Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- oder Salzgehalt sind, ist diskutabel, da es keine endgültigen „Grenzwerte“ gibt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat zwar sogenannte Nährwertprofile niedergeschrieben, aber in einem Bericht über eine Fachtagung (London, 2010)[1] eingeräumt, dass Systeme zur Erstellung von Nährwertprofilen kein Allheilmittel sind und erhebliche Einschränkungen aufweisen. Die strengen Werte des WHO-Nährwertprofil-Modells für Europa 2023[2] führen dazu, dass letztlich zwischen 70 und 80 Prozent aller Lebensmittel von dem Werbebann betroffen wären – traditions- und innovationsreiche Lebensmittel gleichermaßen, wie Käse, Wurst, Fleischersatzprodukte oder Hülsenfruchtprodukte wie Hummus. Und diese sollten im Sinne einer ausgewogenen Nährstoffversorgung für Kinder eigentlich regelmäßig auf dem Speiseplan stehen.
Auswirkungen auf das kurzfristige Essverhalten haben keine Aussagekraft für das Gewicht
Die Studien, die Werbeverbotsbefürworter immer wieder zitieren, untersuchen lediglich die Endpunkte „Auswahl- und Konsumverhalten“. Vereinfacht gesagt: Wenn ein Kind einen Werbespot sieht und im Anschluss zwei Lebensmittel zur Auswahl hat, wird es vorwiegend das aussuchen, wozu es vorher die Werbung gesehen hat. Aber – von diesem kurzfristigen Effekt unter Bedingungen, die nicht die Lebensrealität der meisten Kinder widerspiegeln, auf das gesamte Ernährungsverhalten und in der Folge auf die Übergewichtsentwicklung zu schließen, ist unredlich und unseriös. Statistikexpertin Katharina Schüller kommt in ihren Gutachten über derlei Aussagen zu dem Ergebnis, dass die Studien keine Belege für eine Rechtfertigung eines Werbeverbotes liefern. Die Evidenz eines unmittelbaren, kausalen Zusammenhangs zwischen der Werbeexposition von Kindern und vermehrtem Übergewicht bis hin zu Adipositas ist nicht gegeben.
Warum? Die Studien haben Limitationen. Es ist daher falsch, aufgrund dieser starken Einschränkungen anzunehmen, dass Werbebeschränkungen zu den erwarteten Ergebnissen führen werden. Statt schlüssiger Beweise stützen sich viele Arbeiten auf Schätzungen und Scheineffekte. Konkret geht es beispielsweise um die Literaturübersicht von Boyland et al. (2016)[3], die damit zitiert wird, dass Werbung einen Einfluss auf die Essgewohnheiten der Kinder habe und zu Übergewicht und Adipositas führen könne. Dafür liefert die Literaturübersicht allerdings keinerlei Belege. Weder weist sie einen langfristigen Einfluss von Werbung auf das Essverhalten nach, noch belegt sie einen Effekt von Werbung auf Übergewicht. Eine ältere Studie vom Institute of Medicine (2006)[4] kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, dass die Erkenntnisse nicht ausreichen, um einen kausalen Zusammenhang zwischen Fernsehwerbung und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen zu belegen. Dennoch wird immer noch fälschlicherweise auf Grundlage dieser Studie argumentiert, dass Werbung kindliche Adipositas fördern würde.
Wissenschaft muss langfristig angelegt sein
Um eine wissenschaftlich fundiere Grundlage überhaupt schaffen zu können, benötigt man laut Katharina Schüller eine Langfristbeobachtung einer Gruppe über mindestens ein Jahr. Dies ist nötig, da bei einem einmalig beobachteten Mehrkonsum eine mögliche Kompensation bei späteren Mahlzeiten oder durch mehr Bewegung nicht berücksichtigt werden kann.
Fazit: Ein Gesetzesentwurf, der von Annahmen ausgeht, für die es keine belastbaren Untersuchungen gibt, ist politisch fragwürdig und nicht verhältnismäßig. Es muss Aufgabe der Politik sein, vor Einführung eines Gesetzes Folgenabschätzungen vorzunehmen und nicht durch den öffentlichen Druck von Kampagnenorganisationen zu versuchen, pauschale Verbote durchzusetzen.
[1] World Health Organization. (2011). Nutrient profiling: report of a WHO/IASO technical meeting, London, United Kingdom 4‐6 October 2010. World Health Organization. https://apps.who.int/iris/handle/10665/336447
[2] WHO Regional Office for Europe nutrient profile model: second edition. Copenhagen: WHO Regional Office for Europe; 2023. Licence: CC BY-NC-SA 3.0 IGO
[3] Boyland, E., Nolan, S., Kelly, B., Tudur-Smith, C., Jones, A., Halford, J. C., & Robinson, E. (2016). Advertising as a cue to consume: A systematic review and meta-analysis of the effects of acute exposure to unhealthy food and nonalcoholic beverage advertising on intake in children and adults1,2. The American Journal of Clinical Nutrition, 103(2), 519–533. https://doi.org/10.3945/ajcn.115.120022
[4] Institute of Medecine. (2006). Food Marketing to Children and Youth: Threat or Opportunity? National Academies Press. https://doi.org/10.17226/11514