Stellungnahme des BLL zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Rechts der Verbraucherinformation (Bundesrats-Drucksache 454/11 vom 12. August 2011)
- Bereits in seiner Stellungnahme im Rahmen der öffentlichen Dialogphase zur Evaluierung des Verbraucherinformationsgesetzes vom 22. Juli 2010 (siehe: http://www.vigwirkt.de/de/vig-im-dialog/meinungen-und-stellungnahmen/) und hiernach mit seinem Positionspapier zum Referentenentwurf des BMELV vom 11. März 2011 hat der BLL darauf hingewiesen und durch die zahlreichen eigenen Verbraucherkommunikationsaktivitäten seiner Mitglieder näher untermauert, dass die Lebensmittelwirtschaft das Ziel einer sachgerechten Information der Verbraucher unterstützt. Allerdings dürfen die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Lebensmittelwirtschaft und im Extremfall die Existenz betroffener Unternehmen durch den Vollzug des Verbraucherinformationsgesetzes auch in Zukunft nicht gefährdet werden. Unternehmen oder Produkte dürfen nicht in ungerechtfertigter Weise an einen öffentlichen Pranger gestellt werden; ebenso sind einseitige, einem vollständigen Ermessensausfall gleichkommende Bevorzugungen des Transparenzgedankens zu vermeiden. Kernforderung der deutschen Lebensmittelwirtschaft für das Verbraucherinformationsgesetz (VIG) ist und bleibt daher:
I. Grundsätzliche Anmerkungen
Die Sicherstellung eines angemessenen Ausgleichs von Informationsinteressen der Verbraucher und legitimen Schutzinteressen der Lebensmittelunternehmer/ Lebensmittelunternehmen.
Dieses ursprünglich auch von Seiten der Bundesregierung verfolgte Ziel liegt den meisten der vorgeschlagenen Änderungen jedoch erkennbar nicht mehr zugrunde. Vielmehr findet eine einseitige, völlig unangemessene Verschiebung der Lasten zum Nachteil der Lebensmittelwirtschaft statt, deren schutzwürdige Interessen in eklatanter Weise außer Acht gelassen werden. Der Entwurf entfernt sich dabei ohne sachlich erkennbaren Grund sogar von den Grundsätzen und Ergebnissen, die von rechtswissenschaftlicher Seite in den vom BMELV selbst in Auftrag gegebenen Gutachten im Rahmen der Evaluierungsphase ausformuliert worden sind.
Darüber hinaus werden trotz der ausdrücklichen Betonung des mit dem Gesetzesentwurf verfolgten Zieles der „Anpassung des VIG an die Vorschriften anderer Informationszugangsgesetze“ wesentliche Regelungen des dem VIG am nächsten stehenden Informationsfreiheitsgesetzes (IFG), die zur Sicherstellung eines angemessenen Interessenausgleichs gerade die Schutzinteressen der Unternehmen deutlich herausstellen, einfach ausgeblendet und weitgehend ignoriert.
Die neuere Rechtsprechung zum VIG hat die Risiken und die Grenzen der Verbraucherinformation auf den Punkt gebracht: Verwaltungshandeln durch Information ist irreversibel und eine Verbraucherinformation zu – angeblichen - Rechtsverstößen kann für das betroffene Unternehmen existenzgefährdend oder sogar existenzvernichtend sein (s. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 13.9.2010, Az. 10 S 2/10). Selbst für den Bereich des presserechtlichen Informationsanspruchs sind unlängst sehr deutliche Zweifel daran angemeldet worden, dass ein überwiegendes Informationsinteresse der Öffentlichkeit im Fall bloßer Kennzeichnungsmängel (ohne gleichzeitige Gefahr für die Gesundheit der Verbraucher) rechtliche Anerkennung finden soll (s. VGH Baden Württemberg, Beschluss vom 10.5.2011, Az. 1 S 570/11).
Der vorliegende Entwurf trägt all diesen Umständen nicht nur keine Rechnung, sondern stellt Lebensmittelunternehmer demgegenüber z. T. faktisch rechtslos. So ist z. B. für den Fall einer „festgestellten Abweichung“ dort an kumulativen Folgen vorgesehen, dass eine sachlich und fachlich nicht ausreichend qualifizierte Behörde im Sofortvollzug möglicherweise fehlerhafte Informationen offenlegen muss, ohne dass der betroffene Unternehmer zuvor gehört werden müsste und diesem Unternehmer ggf. ein materieller Ersatzanspruch für den Fall der Fehlerhaftigkeit der Information zustünde. Solche einseitigen Regelungsfolgen sind unter keinem Gesichtspunkt akzeptabel.
Nicht zuletzt das EHEC-Geschehen hat die Tragweite behördlicher Veröffentlichungen für Unternehmen und Unternehmer deutlich gemacht und gezeigt, welche gravierenden wirtschaftlichen Folgen ungesicherte Verdachtsmeldungen haben können.
Vor diesem gesamten Hintergrund erscheint es insbesondere auch nicht nachvollziehbar, dass im Hinblick auf die angestrebten, sehr weitreichenden Änderungen bislang keine öffentliche Anhörung stattgefunden hat.
II. Einzelpunkte
Im Positionspapier vom 11. März 2011 hat der BLL ausführlich und grundsätzlich zum seinerzeitigen Referentenentwurf (Stand: 03.02.2011) Stellung genommen. Die darin dargelegten Kritikpunkte, denen die nunmehr vorliegende Entwurfsfassung nur in einigen Einzelpunkten Rechnung trägt, bleiben vollumfänglich aufrecht erhalten.
Zu einigen wesentlichen im Entwurf vorgesehenen Änderungen des VIG und des § 40 LFGB nimmt die Lebensmittelwirtschaft wie folgt Stellung:
1. Verbraucherinformation ist keine Gefahrenabwehr!
Die komplett unterschiedlichen Regelungsgegenstände von § 40 LFGB (bzw. Art. 10 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002) und des VIG dürfen nicht durch eine Ausweitung des Gesetzeszweckes des VIG mit dem „Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher vor gesundheitsschädlichen oder unsicheren Produkten und der Täuschung beim Verkehr mit Produkten“ vermischt werden. Bereits jetzt beruht ein Großteil der öffentlichen Debatten um das VIG auf einem Fehlverständnis dieses Gesetzes. Es muss jeder Eindruck vermieden werden, dass das Instrumentarium des VIG von Rechts wegen dem Gesundheitsschutz oder Täuschungsschutz dienen darf.
Eine Ausweitung bzw. „Anreicherung“ des Schutzzwecks des VIG über den Aspekt der Behördentransparenz hinaus verwischte in unzulässiger Weise die Grenzen des (unions-) rechtlich geschaffenen und rechtsverbindlichen Gefüges gefahrenabwehrrechtlicher Regeln im Lebensmittelsektor. Es empfiehlt sich daher für § 1 VIG eine Formulierung des Gesetzeszwecks in Anlehnung an § 1 Umweltinformationsgesetzes (UIG).
Im Übrigen gilt: Angesichts der bestehenden europäischen Regelungen für Informationen über Produkte (nach der Produktsicherheitsrichtlinie) und den geltenden Informationsfreiheitsgesetzen des Bundes und der Länder ist eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs des VIG auf sämtliche Verbraucherprodukte unnötig. Das ist eine Doppelung, die keinen sachlichen Mehrwert bringt, dafür aber Mehrkosten verursacht.
2. Auslösetatbestände sind sachgemäß zu gestalten!
Die Auslösetatbestände des § 2 VIG-E, die zu einer Informationserteilung berechtigen, sind sachgemäß zu gestalten – dies ist bislang nicht der Fall.
Dazu gehört insbesondere die Klarstellung, dass eine „festgestellte Abweichung“ im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 1 VIG-E nicht bereits im Fall einer lebensmittelrechtlichen Beanstandung vorliegt, sondern erst, wenn zumindest weitergehende Maßnahmen durch die Lebensmittelüberwachungsbehörde angezeigt sind – denn eine „festgestellte Abweichung“ sagt noch nichts darüber aus, ob die „Feststellung“ dieser Abweichung wirklich gerechtfertigt und angemessen ist und zu Maßnahmen Anlass gibt.
Denn eine Beanstandung ist bekanntlich nur ein erster, vorläufiger und in der Regel sogar folgenloser Schritt: Nach aktueller, von hier eingeholter qualifizierter Auskunft der renommiertesten in Deutschland schwerpunktmäßig im Lebensmittelrecht tätigen Anwaltskanzleien zieht der ganz überwiegende Teil (mindestens 85%!) der anwaltlich bearbeiteten lebensmittelrechtlichen Beanstandungen keine verwaltungsrechtliche, ordnungswidrigkeitenrechtliche oder strafrechtliche Folge nach sich! Dabei handelt es sich allerdings nur um solche Beanstandungen, die seitens der Lebensmittelüberwachung dem jeweils Betroffenen zur Kenntnis gebracht worden sind. Solche Beanstandungen, die dem Betroffenen (z. B. dem Hersteller) nicht zur Kenntnis gelangen bzw. gelangen können (weil die der Beanstandung zugrunde liegende Probe im Handel gezogen wurde), sind bei dieser Zahl deshalb nicht erfasst. Dennoch ist bereits aus den vorliegenden Daten zu folgern, dass die vorgesehene Fassung des Gesetzes die Verbreitung von Informationen als „festgestellte Abweichung“ fördert, die nach der bisherigen Verwaltungspraxis rechtlich überhaupt nicht bedeutsam sind – ansonsten würden die Lebensmittelüberwachungsbehörden nicht 85% der diese Beanstandungen betreffenden Verfahren einstellen!
§ 2 Abs. 1 Nr. 2 VIG-E ist überflüssig und wird rechtssystematisch nach einhelliger Auffassung von Art. 10 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 bzw. § 40 LFGB verdrängt, ist also ohne eigenen praktischen Anwendungsbereich; die Vorschrift ist daher zu streichen.
3. Keine weitere Relativierung von Verwaltungs- und Sanktionsverfahren!
Gegen die vorgesehene Änderung des Ausschlussgrundes in § 3 Nr. 1 b) VIG-E bestehen durchgreifende Bedenken. Insbesondere die im Entwurf vorgesehene generalklauselartige Formulierung „oder das öffentliche Interesse an der Bekanntgabe überwiegt“ hätte eine teilweise erhebliche Aufweichung der zuvor bestehenden Ausschlussgründe und im Ergebnis eine faktische Entwertung von Verwaltungs- und Sanktionsverfahren zur Folge. Selbst die Ausschlussgründe innerhalb des IFG zum Schutz von Verfahren, deren Durchführung nicht zuletzt auch im öffentlichen Interesse liegt, sehen einen grundsätzlichen Nachrang des Informationsinteresses gegenüber beispielsweise Ordnungswidrigkeiten- oder Strafverfahren vor (siehe § 3 IFG). Dies ist rechtssystematisch konsequent, denn bspw. sehen ganz in diesem Sinne auch die Regeln der Strafprozessordnung nur unter sehr eingeschränkten Voraussetzungen eine Information von NichtVerfahrensbeteiligten vor (siehe § 475 StPO). De facto würde diese, für den Bereich von Ordnungswidrigkeiten- und Strafverfahren geltende, höherrangigem Unions- und Verfassungsrecht geschuldete strikte gesetzgeberische Wertungsentscheidung für den Lebensmittelsektor partiell relativiert. Die vorgesehene Formulierung bürdete damit nicht zuletzt Behörden aus dem Bereich der Lebensmit-
telüberwachung Entscheidungen zu strafprozessualen Fragestellungen auf, die sie mangels eigener Sach- und Verfahrenskenntnis regelmäßig nicht zu treffen vermögen. Wie soll eine Behörde der Lebensmittelüberwachung einigermaßen zuverlässig abwägen können, ob das Interesse am Geheimnisschutz in einem Ordnungswidrigkeiten- oder Strafverfahren oder aber das öffentliche Interesse an einer Bekanntmachung überwiegt?
Aus Sicht des BLL ist daher zumindest die bisherige – ohnehin bereits rechtsbedenkliche – Formulierung des § 2 Nr. 1 b) VIG a. F. beizubehalten. In diesem Zusammenhang ist allerdings erneut auf die BLL-Stellungnahme vom 22. Juli 2010 hinzuweisen, in der näher begründet wird, dass laufende (Verwaltungs-) Verfahren einen einschränkungslosen Ausschlussgrund darstellen sollten, um die frühzeitige Offenlegung ungesicherter Informationen mit irreversiblen Schadensfolgen zu vermeiden. Die Fälle der Gefahrenabwehr sind über § 40 LFGB ausreichend und rechtsverbindlich abschließend geregelt.
4. Keine rechtswidrige Einschränkung verfassungsrechtlich garantierter Unternehmensrechte!
Gegen die vorgesehene Streichung des Ausschlussgrundes „sonstiger wettbewerbsrelevanter Informationen“ bestehen gewichtige Bedenken. Dieser Ausschlussgrund wurde von Behördenseite bislang als Auffangtatbestand eingesetzt, um den nach der bisherigen Gesetzesfassung vorgesehenen, rechtsbedenklichen Ausschluss von nicht rechtskräftig festgestellten „Verstößen“ (s. § 2 Satz 1 Nr. 1 b) VIG a. F.; also dem bloßen Verdacht eines Rechtsverstoßes) aus dem Bereich der rechtlich geschützten Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse gewissermaßen auszugleichen. Diese bislang praktizierte Wertung der Behörden steht nicht zuletzt im Einklang mit dem ganz überwiegend anerkannten Schutz auch „rechtswidriger“ Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse nach § 17 UWG und der rechtlichen Wertung des Gesetzgebers für den Bereich des Arbeitsrechts (s. S. 268 f. des „Marburger Gutachtens“).
Die vorgesehene Formulierung in § 3 Satz 4 Nr. 1 bis 3 VIG-E führt zu einer unverhältnismäßigen Relativierung von verfassungsrechtlich garantierten Rechten im Bereich des Datenschutzes, der Eigentumsrechte und der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse. Der in § 3 Satz 4 Nr. 1 VIG-E vorausgesetzte grundsätzliche Vorrang eines Informationsinteresses widerspricht der grundgesetzlichen Werteordnung, wonach Informationsinteressen keine Güter von Verfassungsrang sind.
Der BLL hält es deshalb für zwingend erforderlich, Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse ausnahmslos von einer Offenlegung auszunehmen. Eine inhaltlich zu 100% deckungsgleiche Regelung des ausnahmslosen Ausschlusses von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen wie im bisherigen § 2 Nr. 2 c) VIG findet sich insbesondere in § 6 IFG. § 6 IFG gewährleistet den verfassungsrechtlich gebotenen absoluten Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen. Dies wird in der Amtlichen Begründung zu § 6 IFG ausdrücklich mit dem verfassungsrechtlichen Schutz dieser Rechtsgüter begründet. Der Begriff „Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse“ ist durch die bestehenden Parallelregelungen in anderen Gesetzen (z.B. § 17 Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, UWG) und die einschlägige Rechtsprechung ausreichend präzisiert. Es obliegt der Behörde zu prüfen, ob ein berechtigtes und schutzwürdiges Interesse an der Vertraulichkeit anzuerkennen ist. Diese Bewertung der Behörde ist gerichtlich voll überprüfbar. Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse sind von erheblicher Bedeutung für den Wert eines (Lebensmittel-) Unternehmens. Aus diesem Grunde werden diese Grundlagen eines Unternehmens auch von Art. 14 GG als Teil des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb verfassungsrechtlich besonders geschützt. Ferner kann auch der Schutzbereich der Berufsfreiheit in Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz tangiert sein, wenn die Offenlegung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen an Mitbewerber dem betroffenen Lebensmittelunternehmer seinen wirtschaftlich relevanten Vorsprung nimmt.
Fälle mit einer akuten Gefährdungslage, die eine Information der (allgemeinen) Öffentlichkeit erfordern, werden praktisch vollumfänglich über § 40 LFGB abgewickelt; § 3 Satz 4 Nr. 2 VIG-E ist daher tatsächlich überflüssig. § 3 Satz 4 Nr. 3. VIG-E ist ebenfalls in der bisherigen Ausgestaltung zu beanstanden: Beinahe sämtliche Mess- bzw. Höchstmengen-Daten, die von Seiten der Behörden im Rahmen ihrer gesetzlich vorgesehenen Aufgaben erlangt bzw. erhoben werden, würden auf diese Weise zu einem frei zugänglichen Informationspool umdefiniert. Die amtliche Lebensmittelüberwachung würde auf diese Weise zum regelmäßig kostenlosen Erfüllungsgehilfen für die Verfolgung rechtlich nicht kontrollierbarer Zwecke: Es ist absehbar, dass diese Daten insbesondere von NGOs für Kampagnenzwecke, aber auch von dritter Seite für wettbewerbliche Zwecke missbraucht werden könnten. Damit droht nicht zuletzt die Gefahr der Etablierung von Sekundärregimes, die sich nicht an den unionsrechtlich vorgesehenen Prinzipien der Risikoorientierung, sondern an selbst und freihändig definierten Kriterien von „erwünscht/unerwünscht“ ausrichten. Der Staat darf aber auch nicht durch eine „großzügige“ Informationseröffnung die Entstehung von faktischen Handelshemmnissen auf dem deutschen Markt fördern!
5. Für den Erhalt grundgesetzlich garantierter Verfahrensrechte!
Die vorgesehene Absenkung des Rechtsschutzniveaus unterhalb des im Verwaltungsverfahrensgesetz vorgesehenen Standards durch die Möglichkeit, von der Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 VIG-E abzusehen, begegnet durchgreifenden Bedenken. Insbesondere die Regelung in § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 VIG-E stellt den Betroffenen im Verwaltungsverfahren de facto rechtlos und nimmt ihm jede Möglichkeit, zu der möglicherweise fehlerhaften Bewertung eines Sachverhaltes durch eine Behörde Stellung zu nehmen. Das ist insbesondere auch mit den Grundsätzen des „Steffensen-Urteils“ (EuGH, Urteil vom 10.04.2003, Rs 176/01) nicht vereinbar. Ferner ist die Regelung des § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 VIG-E in seiner Formulierung völlig unbestimmt. Offen bleibt nämlich, wann „gleichartige Fallkonstellationen“ gegeben sein sollen. Angesichts der Bedeutung der Verfahrensrechte für die Unternehmen kann der mit der Formulierung verbundene Interpretationsspielraum nicht zulasten der Betroffenen gehen, d.h. es muss angehört werden.
§ 5 Abs. 4 Satz. 1 VIG-E widerspricht offensichtlich dem Regelungsmodell des § 80 VwGO, wonach Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung haben. Den dort genannten Ausnahmetatbeständen sind die hier in Rede stehenden Fälle nicht annähernd vergleichbar. Die gesetzliche Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit ist aus verfassungsrechtlichen Gründen auf Ausnahmefälle beschränkt und darf nur mit besonderer Begründung erfolgen. Der Entwurf kehrt dieses Regel-Ausnahmemodell in unverhältnismäßiger Weise in sein Gegenteil um. Zusammenfassend formuliert fördert die vorgesehene Fassung von § 5 VIG-E durch die Verkürzung des Rechts auf Gewährung rechtlichen Gehörs und die faktische Verpflichtung des Betroffenen, seine Rechte über eine einstweilige Anordnung zu sichern, die Verbreitung ungesicherter, verwaltungsseitig noch nicht einmal qualifiziert festgestellter „Abweichungen“ einseitig und unzumutbar zulasten des Betroffenen.
6. Keine rechtswidrige Änderung von § 40 LFGB!
Die vorgesehene Beschränkung der Abwägungsklausel des § 40 Abs. 1 Satz 3 VIG ist kraft höheren Rechts offensichtlich unzulässig. Durch die bisherige Fassung der Abwägungsklausel in § 40 Abs. 1 Satz 3 LFGB wird gerade sichergestellt, dass eine umfassende Abwägung der privaten Schutzinteressen des Betroffenen mit dem Veröffentlichungsinteresse der Behörde vorzunehmen ist, um dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung zu tragen. Das hat gute Gründe: Der auch in Art. 10 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 zum Ausdruck kommende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gilt nicht nur für das Gesetz selbst, sondern selbstverständlich auch für den Vollzug des Gesetzes; er gehört zu den Vorgaben für staatliches Informationshandeln und ist daher strikt zu beachten (vgl. BVerfGE 105, 252, 268). So bestehen in diesen Verfahren im Hinblick auf die Namensnennung sehr eingeschränkte Vorgaben, die bei der beabsichtigten Änderung offensichtlich unterlaufen würden. Bei jeder Änderung des § 40 LFGB ist es wegen dieser verfassungsrechtlichen Vorgaben erforderlich, die Auswirkungen auf den sorgfältig austarierten Interessenausgleich zwischen Informationsrechten und legitimen Schutzinteressen der Unternehmen besonders zu berücksichtigen. Die Nennung von Produkt- und Unternehmensnamen in der Öffentlichkeit betrifft bekanntermaßen gerade im Lebensmittelbereich einen äußerst sensiblen Bereich. Aus diesem Grunde ist streng darauf zu achten, dass die Verbraucher nicht durch frühzeitige, ungesicherte Informationsoffenlegung, Fehlinterpretationen oder Panikmeldungen fehlinformiert und dadurch verunsichert werden. Dies kann für die betroffenen Unternehmen unübersehbare wirtschaftliche Konsequenzen haben, die zu Absatzeinbrüchen und Unternehmenskrisen bis hin zur Existenzgefährdung führen können. Unternehmen oder Produkte dürfen
nicht in ungerechtfertigter Weise an einen öffentlichen Pranger gestellt werden!
Ganz in diesem Sinne hat auch der VGH Baden-Württemberg vor kurzem klargestellt, dass Verwaltungshandeln durch Information irreversibel ist und eine Verbraucherinformation zu -angeblichen- Rechtsverstößen eines Unternehmens für dieses existenzgefährdend oder sogar existenzvernichtend sein kann.
Die bislang vorgesehene Interessenabwägung zwingt die Behörde genau deshalb zu besonderer Sorgfalt bei der Beurteilung der Frage, ob das in Rede stehende Informationsrecht in geschützte Rechtspositionen der Unternehmen eingreift und unverhältnismäßige Eingriffe und Belastungen vermeidet. Von Verfassung wegen und auch auf unionsrechtlicher Grundlage ist dementsprechend auch weiterhin eine angemessene Berücksichtigung sämtlicher Schutzinteressen im Rahmen einer Interessenabwägung der Behörde bei § 40 Abs. 1 Nr. 2 LFGB zwingend
erforderlich.
Noch gewichtigere Gründe sind gegen die Einführung von § 40 Abs. 1 a LFGB-E anzuführen. Diese Vorschrift ist mit fundamentalen Rechtsgrundsätzen nicht zu vereinbaren und deswegen komplett zu streichen.
Bekanntlich begegnet bereits die jetzige Fassung von § 40 LFGB, soweit sie über das unionsrechtliche Regelungsniveau von Art. 10 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 hinausgeht, gewichtigen europarechtlichen Bedenken. Soweit nunmehr ein „Veröffentlichungs-Automatismus“ in § 40 Abs. 1 a Nr. 1 LFGB-E vorgesehen ist, der im Fall jeder Höchstmengenüberschreitung eingreifen soll, so ist diese Regelung eindeutig unverhältnismäßig. Betroffenen Unternehmen wird damit jede Möglichkeit genommen, sich vor der Veröffentlichung gegen den möglicherweise unzutreffenden Vorwurf zu wehren oder aufklärend zu wirken; ihre betroffenen Interessen (Vermeidung einer Imageschädigung / Unschuldsvermutung bis zum Abschluss der behördlichen Verfahren) werden kraft Gesetzes für unbeachtlich erklärt – denn die Behörde ist zur Veröffentlichung ohne Rücksicht auf den Einzelfall verpflichtet. Das ist unverhältnismäßig und begegnet erheblichen rechtsstaatlichen Bedenken. Dass die Tragweite behördlicher Veröffentlichungen für ein Unternehmen erheblich sein und welche wirtschaftlichen Folgen ungesicherte Verdachtsmeldungen haben können, ist nicht zuletzt durch das EHEC-Geschehen mehr als deutlich geworden.
Soweit zudem eine automatische Veröffentlichungspflicht im Fall einer behördenseitig lediglich angenommenen Ordnungswidrigkeit vorgesehen ist, stehen dem bereits die einschlägigen Regelungen der Strafprozessordnung entgegen. Wenn eine Behörde Anlass für die Annahme einer Ordnungswidrigkeit oder gar Straftat hat, sind die entsprechenden Schritte zur Einleitung eines Ordnungswidrigkeiten- oder Strafverfahrens einzuleiten. Die vorgesehene Regelung führt im Ergebnis dazu, dass die Behörden zur öffentlichen Mitteilung eines Ordnungswidrigkeitenverdachts verpflichtet wären – das ist eindeutig unzulässig. Zumal zum Zeitpunkt der Veröffentlichungspflicht die Umstände noch gar nicht erkennbar sein können, die für die Bemessung einer Bußgeldhöhe bestimmter Höhe erforderlich sind.
III. Abschließende Bemerkung
Der BLL hatte Herrn Professor Dr. Florian Becker, LL.M (Universität Kiel) um rechtsgutachterliche Bewertung des seinerzeitigen Referentenentwurfs (Stand: 03.02.2011) gebeten. Herr Professor Dr. Becker hat das Ergebnis seiner Prüfung unter dem 25. Mai 2011 wie folgt zusammengefasst: „Der vorgelegte Referentenentwurf von VIG und LFGB ist mit höherrangigen Vorgaben sowohl des Unions- als auch des Verfassungsrechts nicht vereinbar.“
Den begründeten Einwänden des Gutachters trägt auch die nunmehr vorliegende Entwurfsfassung nicht Rechnung. Die Einwände von Professor Dr. Becker (Anlage) macht der BLL daher auch weiterhin geltend.
Insgesamt ist im Hinblick auf den vorliegenden Entwurf aus Sicht der Lebensmittelwirtschaft festzuhalten:
- Die angestrebten Gesetzesänderungen tragen nicht zu einer verbesserten Information der Verbraucher bei, sondern erhöhen das Risiko fehlerhafter Verbraucherinformationen mit den damit verbundenen Schadensfolgen für die Unternehmen.
- Die angestrebten Gesetzesänderungen sind aus rechtlicher Sicht in höchstem Maß bedenklich.
- Durch den Entwurf wird die Lebensmittelwirtschaft in einseitiger und nicht gerechtfertigter Weise benachteiligt und ihre schutzwürdigen Interessen werden eklatant außer Acht gelassen.
Der vorliegende Entwurf ist in seiner derzeitigen Fassung daher für die Lebensmittelwirtschaft nicht akzeptabel.
Berlin, den 14. September 2011
Die Stellungnahme können Sie hier als PDF-Dokument herunterladen:
Stellungnahme des BLL zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Rechts der Verbraucherinformation (Bundesrats-Drucksache 454/11 vom 12. August 2011)