Stellungnahme zum Antrag des Landes Rheinland-Pfalz im Bundesrat „Maßnahmen zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung" (Bundesrats-Drucksache 47/23)
- Zum vorgenannten Antrag des Landes Rheinland-Pfalz nehmen wir in Abstimmung mit dem Bundesverband des Deutschen Lebensmittelhandels (BVLH) und der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie (BVE) wie folgt Stellung:
Allgemeine Anmerkungen:
Die deutsche Lebensmittelwirtschaft sieht keine Notwendigkeit zur Einführung verbindlicher gesetzlicher Regelungen zur Vermeidung von Verlusten und Verschwendung von Lebensmitteln und zur Abgabe von unverkauften, verzehrsgeeigneten Lebensmitteln an gemeinnützige Organisationen. Die Lebensmittelwirtschaft arbeitet bei der Umsetzung der Nationalen Strategie zur Reduzierung von Lebensmittelverschwendung aktiv an der Erreichung der Ziele des SDG 12.3 mit. Die Dachverbände der Lebensmittelwirtschaft haben dazu bereits im März 2020 eine Grundsatzvereinbarung mit dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) geschlossen (siehe: https://www.zugutfuerdietonne.de/fileadmin/zgfdt/inhalt/Strategie/Grundsatzvereinbarung-final_web.pdf ). Des Weiteren wurden in Fortentwicklung der Grundsatzvereinbarung in den Dialogforen Groß- und Einzelhandel und Verarbeitung Entwürfe von Zielvereinbarungen vorgelegt, wozu die Gespräche mit dem BMEL andauern. Darüber hinaus haben viele Unternehmen der Lebensmittelwirtschaft bereits eigene Best-Practice-Initiativen etabliert. Zu den einzelnen Ziffern des Antrags möchten wir folgende ergänzende Ausführungen machen:
Ziffer 1: Verlustquoten:
In Deutschland fallen jährlich elf Millionen Tonnen Lebensmittelverluste an. Auf den Handel entfallen davon sieben Prozent (0,8 Mio. t). Die Verluste im weiten Teilen des Lebensmitteleinzelhandels liegen nach Angaben des BVLH mit 0,25 Mio. Tonnen sogar noch weit darunter. Mit einer Reihe von Maßnahmen arbeiten die Unternehmen des Lebensmitteleinzelhandels bereits seit Jahren erfolgreich daran, Lebensmittelverluste zu reduzieren. Dazu gehören insbesondere:
- der preisreduzierte Verkauf von Waren mit knappem MHD und Ultrafrische-Produkten wie Obst, Gemüse und Backwaren kurz vor Geschäftsschluss,
- Verkauf von Obst und Gemüse mit Schönheitsfehlern,
- das nachfrageorientierte Auffüllen des Frischewarenangebotes insbesondere zu frequenzschwachen Geschäftszeiten,
- Schulungs- und Informationsmaßnahmen zur Reduzierung von Lebensmittelverlusten für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
- Verbesserung der Zusammenarbeit im Umgang mit Retouren,
- Einsatz innovativer Verpackungen zur Verbesserung der Produkthaltbarkeit
- Optimierung der Prozess-, Logistik – und Kühlkette.
Mit diesem Engagement ist es dem LEH gelungen, im Jahr 2020 seine Verlustquote gegenüber 2019 um zwölf Prozent zu reduzieren.
Auch die lebensmittel- und getränkeherstellenden Betriebe in Deutschland arbeiten sehr effizient und verbessern ständig ihre Prozesse und Produktionsabläufe. Allein schon aus wirtschaftlichen Gründen gibt es in der Produktion keine Verschwendung. Noch verzehrfähige Lebensmittel- und Getränkeverluste (wie bspw. falschetikettierte Ware oder Überschüsse aufgrund von Fehlbestellungen), die nicht über die originären Absatzwege (bspw. Lebensmitteleinzelhandel oder Außer-Haus-Markt) verkauft werden können, werden bereits heute - auf freiwilliger Basis - anderweitig über einen vergünstigten Verkauf oder Spenden der menschlichen Ernährung zugeführt. Dies belegen auch die bereits (im Vergleich zu anderen Ländern) sehr hohen Zahlen an Spenden bspw. an die Tafeln in Deutschland.
Welchen Anteil fertige Erzeugnisse (also Produkte, die den Produktionskreislauf vollständig durchlaufen haben) an den Gesamtverlusten in der Lebensmittelproduktion am Beispiel der Tiefkühlwirtschaft ausmachen, kann dem Abschlussbericht des Dti/ZNU zum Pilotprojekt der Check-Food-Waste Messmethode (siehe: https://www.tiefkuehlkost.de/download/oeffentlicher-bericht-pilotphase-check-food-waste) entnommen werden. Die Auswertung zeigt, dass im Jahr 2019 im Mittel 0,07 Prozent der eingesetzten Lebensmittel die gesamte Fertigungstiefe durchlaufen und im Anschluss nicht dem menschlichen Verzehr zugeflossen sind. Eine Regulierung zur Einsparung und Weitergabe für diesen Anteil würde einen unverhältnismäßigen Aufwand darstellen und Personal-kapazitäten binden, die in anderen Projekten zur Einsparung von Lebensmittelverschwendung mehr bewirken könnten. Vielmehr gilt es, die (firmeninternen) Datengrundlagen zu den tatsächlichen Verlusten in den Verarbeitungsunternehmen wie im Sinne des Dti/ZNU-Projekt zu verbessern.
Ziffer 2: Freiwillige Selbstverpflichtung:
Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag vereinbart, mit allen Beteiligten die Lebensmittelverschwendung verbindlich branchenspezifisch zu reduzieren, haftungsrechtliche Fragen zu klären und steuerrechtliche Erleichterung für Spenden zu ermöglichen. Auf diese Ziele ist auch die Arbeit der Dialogforen Groß- und Einzelhandel und Verarbeitung ausgerichtet. Hinwirkend auf das SDG 12.3 haben die teilnehmenden Handelsunternehmen den Entwurf für eine Zielvereinbarung erarbeitet. Ziel der angestrebten Vereinbarung zwischen BMEL und unterzeichnenden Unternehmen ist es, dass Lebensmittelabfälle im Groß- und Einzelhandel in Deutschland durch verpflichtende Maßnahmen und Zielmarken verbindlich und wirksam reduziert werden. Auch für den Bereich Verarbeitung liegt der Entwurf einer auf SDG 12.3 ausgerichteten Zielvereinbarung zur Reduzierung von noch verzehrsgeeigneten Lebensmittelverlusten vor. Insgesamt geht es darum, den verantwortungsvollen Umgang mit Lebensmitteln sowie eine höhere Wertschätzung für Lebensmittel und der zu ihrer Herstellung eingesetzten Ressourcen zu stärken.
Ziffern 3 bis 5: Spenden an gemeinnützige Organisationen und unterstützende Maßnahmen
Im Kampf gegen Lebensmittelverschwendung arbeiten der Lebensmittelhandel und die Lebensmittelindustrie seit langem erfolgreich und konstruktiv mit gemeinnützigen Organisationen zusammen – vor allem mit den Tafeln. Die mehr als 960 lokalen Tafelorganisationen in Deutschland haben mit einem oder mehreren Lebensmittelhandelsunternehmen Vereinbarungen zur Abgabe noch verzehrfähiger Lebensmittel abgeschlossen. Ungefähr 74.000 Tonnen Lebensmittel spendet der Lebensmittelhandel jährlich an die Tafeln aber auch andere Organisationen wie Foodsharing. Im Rahmen des Dialogforums Groß- und Einzelhandel der Bundesregierung zur Reduzierung von Lebensmittelverschwendung haben die teilnehmenden Handelsunternehmen 52 Maßnahmen zur Verbesserung der Weitergabe nicht mehr verkaufs- aber noch verzehrfähiger Lebensmittel umgesetzt. Dazu zählen:
- Demonstrations- und Modellvorhaben mit Start-Ups zur besseren Verwertung der Produkte,
- Etablierung und Weiterentwicklung der Prozessroutinen bei der Bereitstellung von Produkten,
- Finanzielle Unterstützung zum Aufbau und zur Stärkung der Infrastruktur der sozialen Einrichtungen,
- Verbesserung der Qualitätssicherung bei Produkten.
Ein bis dato hemmendes Limit, um das Spendenaufkommen aus der Ernährungsindustrie noch weiter zu maximieren, besteht aktuell auf Seiten der Spendenempfänger / Wohltätigkeitsorganisationen. Diese müssen für die Abholung und Lagerung der Großspenden (unverkaufte Chargen aus der Produktion belaufen sich aufgrund großer Produktionsmengen schnell auf mehrere Paletten) die dafür benötigten Lagermöglichkeiten und Transportfahrzeuge (jeweils inkl. der Möglichkeit zur Einhaltung der Kühl- und Tiefkühlkette) vorhalten. Dies ist nicht immer und überall gegeben. Nicht selten scheitert eine Spende auch an der logistischen Möglichkeit der karitativen Einrichtung, die Ware gleichmäßig und schnell über die Fläche an bedürftige Menschen zu verteilen. So konnte bspw. die Tafel Deutschland im vergangenen Jahr rund 15.500 gespendete Paletten aus der Industrie annehmen und weiterverteilen. Zugleich mussten sie aber auch knapp 2.500 Paletten aufgrund o.g. fehlender (Verkehrs-) Infrastruktur ablehnen. Auch insoweit bestehen demgemäß noch Verbesserungspotentiale.
Mit einer Reihe politischer, regulativer und budgetärer Maßnahmen können sowohl der Bund als auch die Bundesländer die Lebensmittelwirtschaft wirksam dabei unterstützen, noch mehr unverkaufte, für den Verzehr noch geeignete Lebensmittel für soziale Zwecke zu spenden. Dazu zählen insbesondere:
- Die Überprüfung neuer oder bestehender gesetzlicher Regelungen, soweit begründeter Anlass zur Annahme besteht, dass sie die Entstehung von Lebensmittelabfällen befördern oder nachteilige Auswirkungen auf die Vermeidung von Lebensmittelabfällen haben. Dazu zählt vor allem, im Austausch mit anderen Ministerien und Behörden in Bund und Ländern, Zielkonflikte zu erörtern und gegensätzliche Ziele zu gewichten bzw. zu priorisieren sowie unter Berücksichtigung der auf den Verbraucherschutz zielenden lebensmittelrechtlichen Vorgaben haftungs- und steuerrechtliche Spielräume auszuloten. Konkret zu nennen sind hier vor allem:
- die Prüfung einer Beschränkung der zivil- und strafrechtlichen Haftung bei in redlicher Absicht vorgenommener Lebensmittelweitergabe unter Wahrung lebensmittelrechtlicher Vorschriften,
- die Änderung lebensmittelrechtlicher Vorschriften auf EU-Ebene, die eine Weitergabe von Lebensmitteln an gemeinnützige Empfängerorganisationen behindern. Die Lebensmittelsicherheit muss dabei selbstverständlich gewahrt bleiben.
- die Schaffung einer dauerhaften gesetzlichen Regelung für Entlastungen bei der steuerlichen Behandlung von Sachspenden.
- Gezielte Unterstützung gemeinnütziger Empfängerorganisationen von gespendeten Lebensmitteln im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel bzw. im Wege der Schaffung neuer Haushaltstitel oder neuer Förderprogramme,
- Verstetigung und Ausbau der erfolgreichen Informationskampagne des Bundes „Zu gut für die Tonne!“ mit dem Ziel insbesondere bei Verbraucherinnen und Verbrauchern weiterhin auf Verhaltensänderung hinzuwirken. Dafür sollen weitere Kommunikationsmaterialien und Leitfäden erarbeitet und zur Verfügung gestellt werden (auch die Lebensmittelwirtschaft beteiligt sich insoweit heute schon an Aufklärungsmaßnahmen; nicht zuletzt im Rahmen der Initiative „Zu gut für die Tonne“).
- Mitwirkung an der Verbesserung der Datengrundlage durch die Ressortforschung des Bundes vor allem im Geschäftsbereich des BMEL.
- Praxistaugliche und rechtssichere Aktualisierung des BMEL-Leitfadens zur Weitergabe von Lebensmittelspenden.
Ziffer 6: Mindesthaltbarkeitsdatum:
Das Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) ist für Verbraucherinnen und Verbraucher ein wichtiges Kriterium zur Beurteilung spezifischer Produkteigenschaften wie Geruch, Geschmack, Farbgebung, Konsistenz und mikrobiologische Beschaffenheit. Es hilft ihnen, die Qualität und Sicherheit eines Lebensmittels besser einschätzen zu können. Das MHD setzt die zeitliche Untergrenze garantierter, spezifischer Produkteigenschaften. MHD-gekennzeichnete Produkte können nach einer olfaktorischen, visuellen und gustatorischen Prüfung in aller Regel auch noch nach Ablauf des MHD verzehrt werden. „Mindestens haltbar bis“ ist eine kurze, klare und seit mehr als 40 Jahren im kollektiven Verbrauchergedächtnis verankerte und gelernte Aussage.
Wenn man Verbraucherinnen und Verbraucher konkret nach der Bedeutung des MHD (in Abgrenzung zum Verbrauchsdatum) befragt, ergeben sich interessante Befunde: Sie kennen diese Angabe nicht nur ganz überwiegend, sie achten beim Einkauf bzw. bei der Mahlzeitenzubereitung auch auf sie. Den Zweck des MHD kennen die meisten und sie testen die Lebensmittel nach eigenen Angaben auch vor dem Wegwerfen (siehe z.B. GfK 2020).
Mindesthaltbarkeits- und Verbrauchsdatum spielen zudem bei Warenrückrufen eine wichtige Rolle. Sind unsichere Lebensmittel bereits verkauft worden, werden die Kundinnen und Kunden nicht nur über den Hersteller und die Marke der betroffenen Produkte informiert, sondern auch über ihr MHD bzw. Verbrauchsdatum. Die Datumsangabe ist damit das entscheidende Identifikationskriterium für die Rückgabe der Waren an den Händler bzw. für ihre Vernichtung im heimischen Abfallbehälter. Ihre Darstellungsform (TT.MM.JJJJ), die Verbraucherinnen und Verbrauchern im Alltag ständig begegnet, ist gelernt und kann im Ereignisfall schnell gefunden werden. Andere Identifikations-merkmale wie beispielsweise der EAN-Code sind dagegen länger, schwerer zu merken und müssen neu gelernt werden.
Bezüglich der Bedeutung MHD-tragender Produkte bei der Reduzierung von Lebensmittelver-schwendung ist die Datenlage relativ klar. Sie gehören nicht zu den Lebensmitteln mit einem hohen Verschwendungsrisiko. In privaten Haushalten werden in erster Linie Lebensmittel weggeworfen, die entweder grundsätzlich oder zum Zeitpunkt ihrer Entsorgung kein MHD (mehr) tragen. Dazu zählen vor allem frisches Obst und frisches Gemüse sowie Gekochtes und Zubereitetes.
Das MHD als Wegwerfgrund spielt in privaten Haushalten eine untergeordnete Rolle, so dass die im Antrag präferierte Verkürzung der Ausnahmeliste die Wegwerfquote nur unmaßgeblich beeinflussen würde.
Fazit
Zusammenfassend bleibt darauf hinzuweisen, dass statt der Schaffung neuer verbindlicher Vorgaben zur Reduzierung von Lebensmittelverlusten bzw. Lebensmittelverschwendung Lebensmitteln und zur Abgabe von unverkauften, verzehrsgeeigneten Lebensmitteln an gemeinnützige Organisationen die im Rahmen der Nationalen Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung mit der Lebensmittelwirtschaft erarbeiteten freiwilligen Maßnahmen fortgeführt und mögliche Änderungen der (gesetzlichen) Rahmenbedingungen zur Erleichterung der Abgabe von noch verzehrsfähigen Lebensmitteln an gemeinnützige Organisationen stärker in den Blick genommen werden sollten. In Hinblick auf die Datumskennzeichnung sollten die Diskussionen um die Sinnhaftigkeit sowie Art und Umfang eines politischen Handlungsbedarfs auf europäischer Ebene fortgeführt werden.