Gesetzesentwurf zu Werbeverboten ist verfassungs- und europarechtswidrig
Die Rechtswissenschaftliche Untersuchung mit dem Titel „Werbeverbote für Lebensmittel aufgrund ihres Zucker-, Fett- oder Salzgehalts als Eingriffe in die Kommunikations- und Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ kommt zu folgenden Ergebnissen:
- Der Referentenentwurf des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) vom 14.2.2023 (RefE) enthält ein komplexes System von Verboten, das die Werbung für ca. 70 bis 80 Prozent aller Lebensmittel erfassen würde. Es besteht aus einem sehr weitreichenden Teilverbot, das auch Werbemaßnahmen gegenüber Erwachsenen (etwa im Zusammenhang mit Sportereignissen oder in allen Fernsehsendungen bis 23 Uhr) betrifft. Sodann wird ein Totalverbot für Lebensmittelwerbung, die „ihrer Art nach besonders dazu geeignet ist, Kinder zum Konsum zu veranlassen oder darin zu bestärken“ vorgeschlagen, das auch Sponsoringmaßnahmen umfassen soll.
- Dabei gibt es nach eigener Aussage des BMEL keine belastbaren Studien zur Wirkung von Werbeverboten für die als solche ja weiterhin erlaubten Lebensmittel. Nach Anwendungsbereich und Eingriffsintensität unterscheidet sich der Referentenentwurf signifikant von vorherigen politischen Verlautbarungen im Koalitionsvertrag.
- Das vorgesehene Verbotssystem würde erhebliche Eingriffe in die Wirtschaftsgrundrechte der Werbeunternehmen und der Hersteller bzw. Vertreiber der Lebensmittel (Art. 12 Abs. 1 u. 2 Abs. 1 GG) bewirken. In bislang unbekannter Intensität wäre die besonders sensible Kommunikationsordnung (mehrere Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 GG) gestört, ebenso der europäische Binnenmarkt (Waren- und Dienstleistungsfreiheit nach Art. 34 bzw. 56 AEUV). Damit einher geht die Gefahr eines Dammbruchs.
- Werbung stellt sowohl einen Kommunikationsvorgang als auch eine Wettbewerbshandlung dar. Dabei kommen ihr subjektive wie objektive Funktionen zu. Verbraucherinnen und Verbraucher sind primär in der Informationsfreiheit, der Konsum- und der Vertragsfreiheit beeinträchtigt. Rein monetär ausgedrückt, steht ein Volumen der Bruttowerbeinvestitionen im Umfang von rund 3,3 Milliarden Euro infrage. Bislang als vollkommen unproblematisch als Teil der Alltagskultur wahrgenommene Äußerungen wären mit Inkrafttreten des Verbotssystems untersagt und mit ordnungswidrigkeitsrechtlichen Sanktionen belegt.
- Die zentrale Verbotsnorm des RefE (§ 4) verstößt in zweifacher Hinsicht gegen den rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgrundsatz i.V.m. Art. 103 Abs. 2 GG. Da die Normunterworfenen die an sie gestellten Anforderungen im Hinblick auf beide Verbotskomplexe nicht aus eigener Kraft feststellen können, würden die zuständigen Verwaltungsbehörden unweigerlich zu einer Art Meinungs-Polizei.
- Der Schutz der Gesundheit von Kindern ist selbstverständlich ein legitimerweise durch den Gesetzgeber verfolgter Gemeinwohlbelang. Vor allem im Hinblick auf die Kommunikationsgrundrechte des Art. 5 Abs. 1 GG ergeben sich aber aus dem Grundgesetz spezifische Anforderungen für den Umgang mit der Rechtfertigungsgrundlage (hier: der Allgemeinheit des Gesetzes nach Art. 5 Abs. 2 GG). Diese führen im Ergebnis zu strengeren Anforderungen an die Verhältnismäßigkeitsprüfung, insbesondere zu erhöhten Anforderungen an die tatsächlichen Anhaltspunkte, die die Gefahrenprognose des Gesetzgebers stützen sollen.
- Vor allem aus den Kommunikationsgrundrechten nach Art. 5 Abs. 1 GG, aber auch aus den beeinträchtigten Grundfreiheiten des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ergeben sich erhöhte Anforderungen an die behaupteten tatsächlichen Anhaltspunkte, die nach Auffassung des Gesetzgebers seine Gefahrenprognose stützen sollen. Sowohl dem Totalverbot des § 4 Abs. 1 u. 3 RefE als auch (und insbesondere) dem Teilwerbeverbot nach § 4 Abs. 2 RefE fehlt bereits die für Eingriffe in die Grundrechte der Art. 12 Abs. 1 u. 2 Abs. 1 GG zu fordernde Plausibilität. Jedenfalls ist die Geeignetheit der beiden Werbeverbote aufgrund des defizitären Umgangs mit empirischer Evidenz zu verneinen. Im Hinblick auf die Grundfreiheiten des AEUV bzw. die Grundrechte des Art. 5 Abs. 1 GG ist von vornherein mehr zu fordern als Plausibilität. Vielmehr bedarf es insoweit der Nachvollziehbarkeit bzw. Kohärenz der Eingriffsmaßnahmen, die beide erst recht zu verneinen sind.
- Das Verbotssystem des § 4 RefE kann auch dem Erforderlichkeitsgebot (Übermaßverbot) nicht standhalten. Denn es gäbe mehrere, ggf. in Kombination einsetzbare, mindestens gleich geeignete alternative Handlungsmittel. Neben den erst vor kurzem verschärften und noch gar nicht evaluierten bestehenden Reglementierungen sind vor allem Hinweispflichten (die besonders der EuGH betont) und die Beschränkung auf Werbeformate, die „an Kinder gerichtet sind“ zu nennen (wenn man die Geeignetheit unterstellt und die Bestimmtheitsprobleme lösen würde). Auf der Hand liegen ferner Maßnahmen zur Bekämpfung der zahlreichen belegten Ursachenfaktoren für Übergewicht und Adipositas, dies v.a. in den unmittelbar staatlich beherrschten Aktionsräumen, in denen sich Kinder heute bewegen. In diesen Aktionsräumen kann der Staat das Ernährungs- und Bewegungsverhalten der Kinder weitgehend nach seinen Vorstellungen steuern. Bei all dem ist zu beachten, dass Eingriffe in die Kommunikationsfreiheiten grundsätzlich nachrangig sind. Ein noch weniger geeignetes, gleichheitswidriges und daher nicht alternativ einsetzbares Mittel wäre hingegen die Reduzierung des Kreises der erfassten Lebensmittel. Eine solche Reduzierung hätte zur Konsequenz, dass die Annahme eines kausalen Zusammenhangs zwischen dem Verzehr dieser Lebensmittel und der Zunahme von Übergewicht und Adipositas noch weniger plausibel bzw. nachvollziehbar wäre.
- Die unter dem Prüfungspunkt der Angemessenheit erfolgende Gesamtabwägung gelangt zu dem Ergebnis, dass nach Breite und Tiefe einschneidende Grundrechtseingriffe infrage stehen, die einen allenfalls geringen Bezug zum verfolgten Gemeinwohlbelang des Schutzes der Gesundheit der Kinder haben. Das liegt auch an der vollständigen Missachtung der Schutz- und Förderfunktion, die die Eltern gerade im Interesse des Gesundheitsschutzes ihrer Kinder wahrnehmen. Im Hinblick auf die Erwachsenen kommt hinzu, dass der Staat jedenfalls im Hinblick auf den Umgang mit Lebensmitteln, die nicht schon für sich gefährlich oder gar verboten sind, kein Mandat für den Schutz jener Erwachsenen gegen sich selbst besitzt. Hinzu treten gleichheitswidrige Differenzierungen und eine sachlich nicht zu rechtfertigende sog. Inländerdiskriminierung.
- Die rechtswissenschaftliche Untersuchung der materiellrechtlichen Vorgaben des Grundgesetzes und des AEUV gelangt daher zu dem Ergebnis, dass die durch den Referentenentwurf des BMEL implementierte Verbotspolitik betreffend die Werbung für Lebensmittel (aufgrund ihres Zucker-, Fett- oder Salzgehalts) verfassungs- und europarechtswidrig ist. Dies gilt sowohl für das adressatenunabhängige Teilwerbeverbot als auch für das Totalverbot bei Adressierung der Werbung an Kinder.
Das vollständige Gutachten kann hier heruntergeladen werden: