Lebensmittel ganzheitlich bewerten
Mit Blick auf den Umgang mit unerwünschten Stoffen, sogenannten Kontaminanten, haben sich der Lebensmittelverband Deutschland und die Assoziation ökologischer Lebensmittelhersteller (AöL) bei einer gemeinsamen Tagung am 4. März für eine ganzheitliche Betrachtung von Lebensmitteln ausgesprochen.
Diese würde eine Risiko-Nutzen-Bewertung des gesamten Lebensmittels und nicht - wie aktuell üblich - eine Bewertung des Risikos nur eines einzelnen Stoffes erfordern.
„Unerwünschte Stoffe gelangen unbeabsichtigt in Lebensmittel. Das heißt, niemand tut sie absichtlich hinein, niemand will sie in Lebensmitteln haben, aber sie sind trotzdem drin, weil sie, wie beispielsweise Dioxine, Quecksilber, Arsen oder Pyrrolizidinalkaloide, in der Umwelt vorkommen“, erklärte Philipp Hengstenberg, Präsident des Lebensmittelverbands, in seiner Rede zur Eröffnung der Tagung. „Wenn es um unerwünschte Stoffe geht, sitzen wir alle in einem Boot, Hersteller konventionell produzierter Lebensmittel ebenso wie Hersteller ökologischer Lebensmittel und Hersteller von Babynahrung. Denn alle Rohstoffe kommen von einem Planeten, der denselben menschlichen und umweltbedingten Einflüssen ausgesetzt ist. Wir müssen gangbare Lösungen finden, wie wir das Schlüsselproblem angehen können, dass wir auf der einen Seite hohe Sicherheitsstandards haben und auf der anderen Seite eine zunehmende Ressourcenknappheit bei wachsender Weltbevölkerung.“ Ein positives Beispiel, wo eine Risiko-Nutzen-Bewertung bereits durchgeführt wurde, sei der Fischverzehr trotz Quecksilberbelastung.
Dr. Alexander Beck, Geschäftsführer Vorstand der AöL, ergänzte: „Es ist notwendig, dass Wirtschaft, Politik, Behörden und auch die Öffentlichkeit eine gemeinsame Sensibilität für die Widersprüche und Spannungsfelder zwischen Lebensmittelsicherheit und gesundheitlichen sowie nachhaltigen Aspekten entwickeln.“
Aspekte und Modelle für eine ganzheitliche Bewertung von Lebensmitteln
Welche Aspekte zu einer ganzheitlichen Betrachtung gehören, erläuterte Prof. Dr. Franz-Theo Gottwald vom Albrecht Daniel Thaer-Institut für Agrar- und Gartenbauwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin: „Rohstoffe können immer nur so gut sein, wie die Umgebung, aus der sie stammen. Rohstoffe sind Teil der Natur. Aber Qualität muss ganzheitlich bewertet werden. Dazu gehört die Gesundheitsverträglichkeit, Sozialverträglichkeit, Wirtschaftsverträglichkeit und Umweltverträglichkeit eines Produkts. Es geht um Fragen der Effizienz, der Logistik, aber auch um kulturelle Fragen, wie beispielsweise, warum uns hierzulande das Essen von Insekten eher schwerfällt.“
Gottwald erklärte in diesem Zusammenhang, dass Ernährung und Landwirtschaft eine zentrale Rolle bei den UN-Zielen für eine nachhaltige Entwicklung spielen. Zu den Zielen gehöre beispielsweise „Kein Hunger“, „Gesundheit und Wohlergehen“, „Sauberes Wasser“, „Menschenwürdige Arbeit“ und „Nachhaltige/r Konsum und Produktion“. Seiner Auffassung nach müssten neue Modelle genutzt werden, um den Nutzen und den Einfluss des gesamten Lebensmittels mit Blick auf diese vielfältigen Anforderungen zu bewerten. Er rief die Politik deshalb dazu auf, ihre Perspektive auf Lebensmittel zu erweitern und Interessen auch zu gewichten, um Zielkonflikte zu vermeiden.
Herausforderungen in der Praxis
Beispiele für notwendige Abwägungen stellten Hubertus Doms und Dr. Georg Hartmann von der Firma HiPP vor. Herausforderungen seien insbesondere die gleichzeitige Einhaltung von Höchstwerten für mehrere Parameter, die in Einzelbetrachtung durch den Gesetzgeber festgelegt wurden. Zudem stehen diese Parameter zuweilen auch anderen für eine nachhaltige Ernährung und Lebensmittelwirtschaft wünschenswerten Faktoren gegenüber und schließen sich aus: Beibehaltung einer großen Geschmacks- und Produktvielfalt, Verpackungsreduktion oder die Reduzierung von Lebensmittelverlusten.
Lebensmittelsicherheit essenziell
In der anschließenden Podiumsdiskussion stellten sowohl Gitta Connemann (CDU), Harald Ebner (Bündnis 90/Die Grünen) und Klaus Müller (Verbraucherzentrale Bundesverband), klar, dass die Lebensmittelsicherheit keine Kompromisse eingehen könne und die Gesundheit der Menschen immer vorgehe. Ebenfalls sei das Vorsorgeprinzip eine wichtige Errungenschaft.
Connemann verwies in Zeiten von Fake-News auf die Unabdingbarkeit der wissenschaftlichen Basis. Prof. Dr. Dr. Dieter Schrenk, Professor für Lebensmittelchemie und Toxikologie an der Universität Kaiserslautern, sah als möglichen Weg zu einer besseren Risikobewertung die Anwendung des Margin-of-Exposure-Ansatzes: „Toxikologische Referenzwerte sind keine scharfe Marke. Es ist eher ein Risikobereich. So gibt es Sicherheitsabstände zwischen den Werten, denen wir ausgesetzt sind, und Werten, die möglicherweise gesundheitsgefährdend sind.“
Blick auf die Gesamtexposition
Connemann brachte als Lösungsansatz die MEAL-Studie des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) ein. MEAL steht für Mahlzeiten für die Expositionsschätzung und Analytik von Lebensmitteln. Diese sogenannte Total-Diet-Studie untersucht erstmalig systematisch und repräsentativ Lebensmittel im verzehrfertigen Zustand. Aus den Daten lassen sich Verzehrempfehlungen für empfindliche Bevölkerungsgruppen oder hinsichtlich bestimmter Lebensmittel ableiten. Die Daten bilden zudem eine wichtige Vergleichsbasis, um die im Falle einer Krise auftretenden Gehalte schnell und zuverlässig einzuschätzen.
Gemeinsame Verantwortung
Zusammenfassend erklärte Christoph Minhoff, Hauptgeschäftsführer des Lebensmittelverbands: „Alle gesellschaftlichen Gruppen tragen Verantwortung und alle, inklusive der Zivilgesellschaft, sind aufgerufen, Priorisierungen hinsichtlich ihrer Ansprüche an Lebensmittel vorzulegen. Sicherheit kann man auf verschiedene Arten definieren, Sicherheit ist nicht dann, wenn der Grenzwert bei Null ist. Das muss allen klar sein.“