Acrylamid-Sachstandsbericht
Bonn, - Am 24.4.2002 informierte die Schwedische Behörde für Lebensmittelsicherheit in einer Pressemitteilung die Öffentlichkeit über den Nachweis von Acrylamid in verschiedenen Lebensmitteln. Diese Funde wurden von Anfang an von allen Beteiligten sehr ernst genommen, da sich Acrylamid als solches im Tierversuch als krebserregend zeigte. „Acrylamid“ ist eine Problematik, bei der Politik, Wirtschaft und Wissenschaft gemeinsam zu Lösungen gelangen müssen.
Nach bekannt werden der Forschungsergebnisse hat der BLL umgehend mit Mitgliedern und Wissenschaftlichem Beirat Beratungen aufgenommen und mit der Bundesregierung eine unverzügliche Befassung auf wissenschaftlicher Ebene vereinbart.
Sicher ist, dass Acrylamid keine Kontamination von „außen“ ist, sondern während der Herstellung kohlenhydratreicher Lebensmittel unter hohen Temperaturen gebildet wird. Forscherteams konnten Ende September nachweisen, dass Acrylamid u.a. aus der Aminosäure Asparagin und reduzierenden Zuckern entsteht. Diese Erkenntnis ist ein erster wichtiger Schritt, um die Verringerung der Acrylamidgehalte gezielt angehen zu können. Gelöst ist das „Acrylamid-Problem“ damit jedoch noch nicht. Asparagin ist eine Aminosäure, die natürlicherweise in verschiedenen pflanzlichen Eiweißen, insbesondere in Spargel, Kartoffeln oder Getreide, enthalten ist.
Die Thematik betrifft nicht nur die gewerbliche Produktion, sondern ebenso die haushaltsmäßige Zubereitung. Das hat auch eine Veröffentlichung des Schweizer Bundesamtes für Gesundheit vom 13.6.2002 deutlich gemacht, in der darauf hingewiesen wurde, dass in der haushaltsmäßigen Zubereitung z.T. hohe Acrylamidgehalte nachgewiesen wurden. Inzwischen gibt es erste Empfehlungen, wie die Acrylamidbildung bei der haushaltsmäßigen Zubereitung verringert werden kann, z.B. durch Absenken der Frittiertemperatur auf ca. 175 °C.Es ist davon auszugehen, dass Acrylamid seit jeher in der Menschheitsgeschichte bei der Zubereitung entsprechender Lebensmittel unter hohen Temperaturen eine Rolle gespielt hat.
Derzeit bedürfen vor allem folgende Komplexe der wissenschaftlichen Klärung:
- Tatsächliche Acrylamidgehalte welcher Lebensmittel?
- Entstehen von Acrylamid im Herstellungsprozess sowie ggf. mögliche
- Veränderungen in den Prozessen, um die Entstehung zu unterdrücken?
- Mögliche toxikologische Belastung des Menschen?
Vom 25.-27.6.2002 fand ein Expertentreffen der WHO statt, auf dem ein mögliches Gesundheitsrisiko durch Acrylamid diskutiert wurde. Auch die WHO nimmt das Thema sehr ernst, machte jedoch deutlich, dass eine abschließende Bewertung erst möglich ist, wenn Fragen zur Entstehung von Acrylamid, zur Toxizität und Belastung von Lebensmitteln beantwortet werden können.
Insbesondere die FDA machte im Anschluss an das Expertentreffen der WHO deutlich, dass derzeit keine Notwendigkeit für die Verbraucher bestehe, grundsätzlich ihre Ernährung umzustellen, wenn sie sich ausgewogen und vielseitig ernähren. Dies wurde auch von der englischen „Food Standards Agency“ (FSA) wiederholt erklärt, ebenso hat sich das Schweizer Bundesamt für Gesundheit geäußert.
Der Ausschuss für Lebensmittel der EU-Kommission (SCF) veröffentlichte am 3.7.2002 eine Stellungnahme zu Acrylamid in Lebensmitteln. Der Ausschuss sieht sich aufgrund der unzureichenden Daten derzeit nicht in der Lage, das bestehende Risiko durch Acrylamid in Lebensmitteln abschließend zu bewerten. Gleichzeitig schließt sich der Ausschuss der Stellungnahme der FAO/WHO an, in der deutlich gemacht wurde, dass noch erheblicher Forschungsbedarf besteht, bis alle relevanten Fragen zu Acrylamid beantwortet werden können.
Die Lebensmittelwirtschaft unternimmt gemeinsam mit Wissenschaft und Behörden große Anstrengungen, um möglichst rasch die ungeklärten Fragen zu lösen. So ist es inzwischen gelungen, eine zuverlässige Analytik zu entwickeln. Es gibt weiterhin mehrere Forschungsvorhaben, u.a. zur Aufklärung des Bildungsmechanismus und zur Toxikologie. Die deutschen Chips-Hersteller haben bereits erhebliche Investitionen getätigt, um in den Bereichen „Analytik“, „Technologie“ und „Grundlagenforschung“ zu gesicherten Ergebnissen zu kommen.
Bei einigen Kartoffelverarbeitungserzeugnissen konnten bereits die Acrylamidgehalte durch eine Senkung der Frittiertemperatur bis an die Grenzen der technologischen Prozessbeherrschbarkeit um etwa 10 % verringert werden.
Am 14.8.2002 empfahl das BgVV in einer Pressemitteilung die Einführung eines sogenannten „Aktionswertes“ für Acrylamid in Lebensmitteln. Dieser Aktionswert ist auf breite Kritik gestoßen, da er, wie das BgVV selbst eingestehen muss, toxikologisch nicht begründbar ist, Verzehrsmengen außer Acht lässt und die Aufnahme von Acrylamid durch die häusliche Zubereitung nicht berücksichtigt.
Dieser Aktionswert wurde auf der Informationsveranstaltung am 29.8.2002 im BgVV dahingehend konkretisiert, dass er lediglich als „Signalwert“ verwendet wird. Ein solcher Wert soll der stufenweisen Minimierung der unerwünschten Gehalte von Acrylamid in bestimmten Le-bensmitteln dienen. Aus den einzelnen Produktgruppen werden jeweils die 10 % der Erzeugnisse identifiziert, die am stärksten belastet sind. Der unterste Wert dieser 10 % gilt dann als "Signalwert". Ist dieser Wert überschritten, soll von staatlicher Seite Kontakt mit den Herstellern aufgenommen werden, um gemeinsam zu prüfen, ob und ggf. durch welche Änderung der Rezeptur oder Prozessschritte eine Absenkung der Acrylamidgehalte erreicht werden kann.
Der Signalwert stellt keinen Grenzwert dar, sondern ist als Indikator zu verstehen, der zeigt, welche Produkte mit Vorrang zu betrachten sind. Der Signalwert und eine mögliche Überschreitung haben keine Auswirkung auf die Verkehrsfähigkeit der Produkte. Die Ausrichtung der Minimierungsbestrebungen an einem Signalwert erfolgt vor dem Hintergrund, dass auf absehbare Zeit weder die Bildung von Acrylamid vollständig vermieden werden kann noch Grenzwerte toxikologisch begründbar und technologisch umsetzbar sein werden.
Auch die Europäische Kommission hat sich inzwischen der „Acrylamid-Thematik“ angenommen. Auf einer zweitägigen Konferenz am 15. und 16.10.2002 hat sie sich durch Konsultationen der Mitgliedstaaten und der europäischen Lebensmittelwirtschaft ein umfassendes Bild über den aktuellen Stand der Erkenntnisse und Aktivitäten „in Sachen“ Acrylamid in Lebensmitteln verschafft. Der Meinungsaustausch hat ergeben, dass noch viele Fragen offen und schnelle Lösungen nicht zu erwarten sind. Die Kommission wird die europäischen Akti-vitäten koordinieren und eine Datenbank einrichten, in der alle Erkenntnisse aktualisiert abrufbar sein werden, um gleichen Wissensstand zu gewährleisten und aufwändige Doppelarbeiten zu vermeiden. Zur Frage nach etwaigen vorläufigen Grenzwerten hat sich die Kommission überaus deutlich geäußert, „die Zeit sei nicht reif für Werte, es seien noch viele Dimensionen zu bearbeiten“.
Acrylamid in Lebensmitteln ist kein Lebensmittelskandal. Niemand auch nicht die Lebensmittelindustrie kann für die Bildung von Acrylamid in Lebensmitteln verantwortlich gemacht werden.
Die Lebensmittelwirtschaft wird mit Nachdruck auch weiterhin alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, damit das ernst zu nehmende Problem „Acrylamid“ die gebotene sachliche Behandlung erfährt, um in Hinblick auf den vorbeugenden Gesundheitsschutz ohne Zeitverzögerung zu wissenschaftlich fundierten Ergebnissen zu gelangen.